Auf der Suche nach dem Brexit
Um in London Hinweise auf den bevorstehenden Austritt aus der Europäischen Union zu finden, muss man lange Wege gehen
- Soll keiner glauben, in England gäbe es kein anderes Thema mehr als den Brexit. Mögen die Zeitungen hierzulande voll sein mit dem Rätselraten um die unergründliche britische Seele, – speziell die Menschen in London scheint anderes umzutreiben als der bevorstehende Abschied der Briten aus der Europäischen Union.
Fast zwei ganze Tage hat es gedauert, ehe wir die ersten und in insgesamt vier Tagen einzigen Zeichen des Brexit in London gefunden haben. Im Parlamentsviertel. Nur dort stösst man tatsächlich auf die Schilder und Demonstranten, die man regelmässig in den deutschen Medien sieht. Im Rest der Stadt: nirgends irgendwelche Hinweise, Plakate, Demonstrationen, Autoaufkleber oder Sprüche für oder gegen den Brexit. Eine ziemlich überraschende Erkenntnis für Londonbesucher. Wer die heimischen Medien verfolgt, wähnt das Land in grosser Aufregung und kurz vor dem grossen Zusammenbruch, falls es am 29. März tatsächlich zum No-Deal-Brexit kommen sollte, dem Austritt ohne weitere Vereinbarungen.
Das Leben geht weiter
Brexit? War da was? Nicht in der weltläufigen Finanzmeile, der City, nicht im weltbekannten Kaufhaus Harrods in Knightsbridge, nicht im schicken Wimbledon, nicht im hippen South Kensington oder sonstwo in der Kapitale des Mutterlands der Demokratie. Auch am Flughafen Heathrow: nichts zu sehen vom Brexit. Das Leben geht weiter, alles ganz normal – es ist halt doch eine Insel vor dem Kontinent, den die Briten „Europe“nennen und der sie eigentlich nie so richtig begeistern konnte.
Tausende schauen sich den 11-UhrWachwechsel vor dem Buckingham Palace an und beklatschen das alte Empire mit seinen militärischen Insignien. Etwas weiter entfernt bevölkern Menschenmassen Harrods und seine Umgebung in South Kensington: Araber, Chinesen, Russen und fast alles, was der Commonwealth an Nationalitäten hergibt, vereinzelt Deutsche und andere EU-Bürger.
Schwere Limousinen, teure SUVs und unzählige schwarze Taxis verstopfen die Straßen, unablässig werden Tüten und Taschen eingeladen. Hier wird geshoppt, als gäbe es kein Morgen. Die Touristen kommen in Scharen, seit das billige Pfund London erschwinglich gemacht hat. Tourismus, das ist Export von Dienstleistungen, die halt billiger werden. Importe, wie Autos aus dem Ausland, werden teurer, aber noch macht sich das nicht bemerkbar, noch schleichen die eingeführten Pkw auf Londons Strassen im Stau daher.
In Wimbledon, wohin sich nur zum Tennisturnier Touristen verirren, sind die Restaurants am Sonntag bis auf den letzten Stuhl besetzt – vom Frühstück bis zum Dinner. Die vergleichsweise gut verdienende internationale Community aus Bankern, Anwälten, Beratern, Agenten, die den einstigen Vorort bevölkern, speist unbeeindruckt. Man nimmt den Brexit hin, wie eine ungewollte Schwangerschaft oder ein Wunschkind. Uns wurde ein Foto von einem halbleeren Regal im Supermarkt gezeigt, aber in Wimbledons Restaurants ist alles im Überfluss vorhanden. Wie lange es noch italienischen Kaffee oder französischen Käse ohne Zölle geben wird, interessiert hier niemanden.
Dabei tobt etwas mehr als einen Monat vor dem Austrittsdatum aus der Europäischen Union die Schlacht, ob, wann und wie man unter welchen Bedingungen aus der EU austreten kann, will oder nicht will. Jede kleine Wendung in der Argumentation, jede Konjunktureintrübung wird beobachtet, jede neue Information von beiden Seiten nach Gusto interpretiert. Aber es ist eine reine Parlamentsdebatte zwischen den tief verfeindeten Parteien und Gruppierungen, die sich in den englischen Medien widerspiegelt. Es ist angerichtet für den Showdown, aber noch sind die Tribünen leer, von denen die Fernsehstationen in alle Welt über den Brexit berichten. Das wird sich ändern, wenn die letzte grosse Abstimmung im Unterhaus stattfindet. Irgendwann wird sie kommen, die „meaningful vote“, die bedeutungsschwere Abstimmung.
Ein Banker hat berichtet, dass er die „Financial Times“abbestellt habe, „weil ich die ewige Argumentation, warum wir in der EU bleiben sollen, nicht mehr lesen konnte“. Dazu muss man wissen, was das Nichtlesen der ehrwürdigen lachsfarbenen „FT“, wie sie in der City kurz genannt wird, heisst. Das ist ungefähr dasselbe, als würde der Papst nicht mehr in der Bibel lesen oder Putin auf die „Prawda“verzichten. Aber die „FT“macht aus ihrer proeuropäischen Grundhaltung kein Geheimnis: Auf dem Redaktionsgebäude an der Southwark Bridge, ganz in der Nähe der City auf der östlichen Seite der Themse, weht die europäische Flagge. Das gibt es sonst nirgends in London.
Draußen auf der Straße – nichts, wie gesagt. Selbst das grosse Churchill-Denkmal vor dem Parlament bleibt ungenutzt, obwohl der ehemalige Premierminister 1946 die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa propagierte – allerdings, wie es ein Teil der Historiker sieht, mit Deutschland und Frankreich an der Spitze, ohne Großbritannien. Wenigstens dort würde man doch ein paar Plakate vermuten oder Blut-, Schweiss-und-Tränen-Redner. Aber Churchill bleibt eine Beute der Touristen.
Dass sie dereinst um ein Denkmal von Theresa May schleichen werden, ist eher unwahrscheinlich. Die aktuelle Premierministerin kann es niemand rechtmachen. Befragte Banker, Berater, Anwälte, Deutsche, Engländer, Freunde, Partner, Taxifahrer und Hotelgäste an der Bar sind sich einig: May ist „die schlechteste Premierministerin in der Geschichte.“Sie habe nichts Substantielles für das Königreich verhandelt, sagen die Anhänger der klassischen Konservativen, die Labour-Chef Jeremy Corbyn aber für das noch größere Übel halten. May denke nur an ihren Deal, den sie in der „eleventh hour“, also in einer Abstimmung ganz kurz vor dem 29. März, nur ganz leicht angepasst durch das Parlament bringen wolle.
Hauptsache, eine Entscheidung
Was alle wollen: endlich ein Ergebnis, irgendeines. Die Briten sind der ganzen Debatte überdrüssig und genervt. Auf die Frage nach IN oder OUT zucken sie mit den Schultern, so als könne man es jetzt auch nicht mehr ändern. „Ich glaube, dass es am Anfang schwierig wird“, sagt ein Gesprächspartner auf Nachfrage, „aber ich habe für den Ausstieg gestimmt. Nicht für mich, sondern für meine Kinder und Enkel.“Das Misstrauen gegen Brüssel sitzt tief. Manche glauben, dass die EU auseinanderfallen wird – vielleicht schon über das italienische Defizit. Merkel & Co nennen die EU ein Friedensprojekt? Das sehen auf der Insel viele anders.
Ein paar wenige zeigen Flagge, so wie David Palk. Der Frühpensionär ist für ein paar Tage aus Devonshire angereist, um vor dem Parlament zu demonstrieren. Mit EU-Flagge auf im Sonnenlicht durchscheinendem Union Jack, der britischen Flagge. David ist in Blau gekleidet, mit einem kleinen IN-Button auf dem Revers. Auch er ist gegen die Premierministerin, auch er glaubt, dass May auf Zeit spielt und die Uhr ablaufen lässt. „Runnig down the Clock“heisst das hier.
Apropos Clock: Um 11.30 Uhr sind es vielleicht 20 Demonstranten vor dem Parlament, aus beiden Lagern. Drinnen fordert May in einer neuen Debattenrunde von den Parlamentariern mal wieder mehr Zeit ein. „Nachmittags werden es bis zu 40“, sagt David, als wäre er ein PR-Manager seines Lagers. Warum sind es nicht mehr? „Vergiss nicht, dass die Leute arbeiten müssen. Aber am Wochenende werden es mehr. Dann gibt es richtige Demos“, erklärt er. Der Mann ist Profi und wird nicht zum ersten Mal interviewt. Aber nur wochentags, wenn die anderen arbeiten.
Wir sind beim Empfang eines Finanzberaters im Regierungsviertel – auch hier kein offensichtlicher Hinweis auf den Brexit. Gibt es vielleicht eine Bannmeile? Gibt es nicht. Man könnte, wenn man wollte, demonstrieren, aber keiner tut es. Die Partygäste gehören nicht zu den Ersten, die den Brexit spüren, die darunter leiden würden, wenn Warenlieferungen wirklich ausblieben, wenn Importe von Produkten, die in Großbritannien nicht mehr hergestellt werden, teurer würden. Die Gutverdiener rechnen nach wie vor mit einem Deal in letzter Sekunde, nehmen den No-Deal-Brexit aber als reale Gefahr hin. Für beide Seiten, so erklären sie abgeklärt beim Weisswein, als handele es sich um ein Geschäft, einen Deal. Und handeln, das ist ihre Welt. Sie beginnen, die Vor- und Nachteile für beide Seiten aufzuzählen, als wollten sie sich selbst davon überzeugen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ein ungeordneter Brexit. Einer macht sich Sorgen, was mit seinen Ferienflügen auf den Kontinent passieren könnte, die ausgerechnet auf Freitag, 29. März, terminiert sind. Muss man sich darauf einstellen, dass am grössten Luftdrehkreuz Europas Chaos entsteht, dass Maschinen am Boden bleiben müssen, weil sie keine Landerechte mehr haben? Unvorstellbar, wie vieles in London in diesen Tagen.
Die Uhr tickt, von Big Ben mal abgesehen. Fast symbolisch ist der wohl berühmteste Zeitmesser der Welt am Parlamentsgebäude momentan eingerüstet. Big Ben wird bis 2021 renoviert und schlägt deshalb derzeit nicht wie üblich zur vollen Stunde. Wenn es hier am Parlament auf die „eleventh hour“zugeht, wird also wohl nicht zu hören sein, wem die Stunde schlägt. Oder doch? Denn auch eingerüstet soll Big Ben zu seltenen Anlässen schlagen. Ob die Briten den EU-Austritt, wie auch immer er vollzogen wird, als Ereignis einstufen, das den Einsatz von Big Ben ratsam erscheinen lässt? Noch eine Frage, die auf der Suche nach dem Brexit nicht beantwortet wurde. Der Weg ist in diesem Fall jedenfalls nicht das Ziel, sondern allenfalls der Start in eine gänzlich neue Situation für Europa, diesseits und jenseits des Ärmelkanals.
Rund um Harrods wird geshoppt, als gäbe es kein Morgen. Beobachtung eines Londonreisenden in South Kensington „Vergiss nicht, dass die Leute arbeiten müssen. Aber am Wochenende werden es mehr.“Demonstrant David Palk zur geringen Zahl seiner Mitstreiter