Schönheit, Selbsterkenntnis und Revolverhelden
Museum Rietberg in Zürich beleuchtet in einem grandiosen Parcours die Geschichte des Spiegels
ZÜRICH - „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“, fragt die böse Königin im Märchen „Schneewittchen“der Brüder Grimm. Eitel ist sie – so wie wir alle. Kaum jemand geht aus dem Haus, ohne einen kritischen Blick in den Spiegel. Wir überprüfen unsere Erscheinung und klären dabei die Frage, ob wir den gesellschaftlichen Anforderungen wohl entsprechen können. Aber was wissen wir über den Spiegel, über seine Geschichte und seine Verwendung – und was erzählt er über uns? Das Museum Rietberg in Zürich beleuchtet erstmals mit 220 Kunstwerken aus 95 Museen und Sammlungen die Kulturgeschichte des Spiegels in aller Welt. Eine vielseitige, spannende Ausstellung und damit Grund genug für einen Ausflug in die Schweiz.
Es war ein Herbsttag im Jahr 1839, als ein gewisser Robert Cornelius in Philadelphia vor dem Geschäft seiner Familie das machte, was als erstes auf Armlänge entstandenes fotografisches Selbstporträt der Geschichte bezeichnet werden kann. Das Bild zeigt in vergilbtem Schwarz-Weiß einen jungen Mann mit wirrem Haar und skeptischem Blick.
Gloriose Selbstbespiegelungen
Die Bezeichnung „Selfie“dagegen sollte erst viel später erfunden werden, am anderen Ende der Welt: Am 13. September 2002 tauchte das Wort das allererste Mal schriftlich in einem australischen Onlineforum auf, schreibt Paulina Szcezesniak im Katalog. Ein User hatte das Foto seiner blutigen Unterlippe, die er sich im Suff geholt hatte, online gestellt und es als „Selfie“bezeichnet. Was dann kam, wissen wir alle: eine Flut von gloriosen Selbstbespiegelungen, im perfekten Moment eingefroren, mittels Filtern optimiert und in die unendlichen Weiten des digitalen Paralleluniversums entlassen. Unser Narzissmus scheint so groß zu sein, dass wir es wichtiger finden, besser auszusehen, als uns selbst zu gleichen. Ja, auch dieser Aspekt unserer modernen Zivilisation wird in der neuen Ausstellung mit dem Titel „Spiegel – Der Mensch im Widerschein“thematisiert.
Gruppiert ist die umfangreiche Schau, mit der sich Museumsdirektor Albert Lutz in den Ruhestand verabschiedet, in zwölf Abteilungen. Sie beginnt mit dem Mythos des Jünglings Narziss, der sich in sein Spiegelbild im Wasser verliebt, und endet mit einer brandneuen Installation des chinesischen Künstlers Li Wei, mit der er unsere Vorliebe für gepimpte Selfies ins Visier nimmt. Es geht um Eitelkeit und Weisheit, um Selbsterkenntnis, Schönheit, Mystik und Magie. Das Gute dabei: Der Rundgang durchs Haus verbindet gekonnt Kunstwerke und Kultgegenstände aus alten Kulturen mit Positionen von Künstlern der Moderne sowie der Gegenwart – von der Malerei eines Fernand Légers bis zum Videoclip eines Bill Violas. Und zwischendrin sorgen Kinokabinette mit Ausschnitten aus berühmten Spielfilmen für ein unterhaltsames Kontrastprogramm.
Im Zentrum steht natürlich die Kulturgeschichte des Spiegels. Die vor mehr als 7000 Jahren gefertigten Spiegel aus Obsidian, einem schwarzen Gesteinglas, die man in neolithischen Gräbern im türkischen Anatolien gefunden hat, gelten heute als die ältesten archäologisch dokumentierten Spiegel der Welt, wie im Katalog nachzulesen ist. Die Spiegel wurden den Toten mit ins Grab gelegt, zu welchem Zweck ist bislang unbekannt. Erst mit dem Aufblühen der Bronzekulturen in Mesopotamien, Ägypten und China verbreiteten sich ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. blank polierte, kreisrunde Metallspiegel, die auf ihrer Rückseite meist aufwendig verziert waren. Diese dienten nicht nur kultischen Zwecken und als Grabbeigaben, sondern auch zur kosmetischen Pflege des Gesichts. Kostbarste Stücke in Zürich sind ein ägyptischer Spiegel aus dem 19. Jahrhundert v. Chr., den ein Vater für seine Tochter herstellen ließ, sowie zwei blinde Mosaikspiegel aus der Maya-Kultur, die aus dem Nationalmuseum in Mexiko stammen.
Kraftfiguren gegen das Böse
Interessant ist auch das Kapitel zu den magischen Seiten des Spiegels. Bemerkenswert sind hier vor allem die kuriosen Minkisi-Figuren um 1900 aus dem Kongo. Den Körper bedeckt mit Nägeln und Klingen, im Bauchraum einen Behälter mit einem Spiegel, den stechenden Blick verstärkt durch Augen aus Glas, sollen sie Unglück fernhalten oder vor Dieben und Hexen schützen. Ein interessanter Aspekt: Die Spiegel waren Handelsgut aus dem italienischen Murano.
Was im Gedächtnis bleibt, ist außerdem eine Ausstellung in der Ausstellung zum fotografischen Selbstporträt von 20 Künstlerinnen aus vier Kontinenten. Immerhin hatte schon Sokrates seinen Schülern geraten, in den Spiegel zu schauen, um das eigene Innere zu erforschen. So hat sich zum Beispiel Bauhaus-Schülerin Marianne Brandt mithilfe dreier Glaskugeln verewigt oder Cindy Sherman in den Siebzigern mit einem Schnappschuss im Bad, während sich die junge Ägypterin Nadia Mounier an typisch männlichen Orten ablichtet, etwa im Spiegel eines Barber-Shops. Der überlegte Einsatz des Spiegels scheint ein charakteristisches Zeichen der weiblichen Selbstporträts zu sein. Den männlichen Selbstbildnissen fehlen dagegen eher Formen des Zweifelns oder der Erkenntnis. Amüsante Beispiele finden sich gleich nebenan in den Ausschnitten aus Spielfilmen mit Spiegelselbstgesprächen von Männern und auf Spiegel schießenden Revolverhelden.
Die Geschichte des Spiegels ist aber auch eine der technischen Entwicklung. Waren die Glasspiegel anfangs noch mit giftigem Quecksilber oder Zinn beschichtet, wurde später Silber dafür verwendet und mittlerweile ist es Aluminium. Apropos. Höhepunkt im letzten Raum ist die berühmte Szene aus Jean Cocteaus „Orphée“, bei dem Schauspieler Jean Marais als Orpheus durch einen Spiegel in die Unterwelt eintritt. Wer genau hinschaut, dem wird auffallen, dass Marais Gummihandschuhe trägt. Der Grund dafür: Er musste beim Dreh seine Hände in ein Quecksilberbad tauchen. Filmemacher von heute können dank digitaler Technik über solche Einfälle wohl nur den Kopf schütteln. Sei’s drum. Die Szene ist trotzdem grandios.
Öffnungszeiten: Di.-So. 10-17 Uhr, Mi. 10-20 Uhr, Pfingstmontag 10-17 Uhr; Katalog zur Schau: 45 Euro. Weitere Infos zum umfangreichen Rahmenprogramm unter: