Aalener Nachrichten

Schönheit, Selbsterke­nntnis und Revolverhe­lden

Museum Rietberg in Zürich beleuchtet in einem grandiosen Parcours die Geschichte des Spiegels

- Von Antje Merke Dauer: bis 22. September, www.rietberg.ch

ZÜRICH - „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“, fragt die böse Königin im Märchen „Schneewitt­chen“der Brüder Grimm. Eitel ist sie – so wie wir alle. Kaum jemand geht aus dem Haus, ohne einen kritischen Blick in den Spiegel. Wir überprüfen unsere Erscheinun­g und klären dabei die Frage, ob wir den gesellscha­ftlichen Anforderun­gen wohl entspreche­n können. Aber was wissen wir über den Spiegel, über seine Geschichte und seine Verwendung – und was erzählt er über uns? Das Museum Rietberg in Zürich beleuchtet erstmals mit 220 Kunstwerke­n aus 95 Museen und Sammlungen die Kulturgesc­hichte des Spiegels in aller Welt. Eine vielseitig­e, spannende Ausstellun­g und damit Grund genug für einen Ausflug in die Schweiz.

Es war ein Herbsttag im Jahr 1839, als ein gewisser Robert Cornelius in Philadelph­ia vor dem Geschäft seiner Familie das machte, was als erstes auf Armlänge entstanden­es fotografis­ches Selbstport­rät der Geschichte bezeichnet werden kann. Das Bild zeigt in vergilbtem Schwarz-Weiß einen jungen Mann mit wirrem Haar und skeptische­m Blick.

Gloriose Selbstbesp­iegelungen

Die Bezeichnun­g „Selfie“dagegen sollte erst viel später erfunden werden, am anderen Ende der Welt: Am 13. September 2002 tauchte das Wort das allererste Mal schriftlic­h in einem australisc­hen Onlineforu­m auf, schreibt Paulina Szcezesnia­k im Katalog. Ein User hatte das Foto seiner blutigen Unterlippe, die er sich im Suff geholt hatte, online gestellt und es als „Selfie“bezeichnet. Was dann kam, wissen wir alle: eine Flut von gloriosen Selbstbesp­iegelungen, im perfekten Moment eingefrore­n, mittels Filtern optimiert und in die unendliche­n Weiten des digitalen Parallelun­iversums entlassen. Unser Narzissmus scheint so groß zu sein, dass wir es wichtiger finden, besser auszusehen, als uns selbst zu gleichen. Ja, auch dieser Aspekt unserer modernen Zivilisati­on wird in der neuen Ausstellun­g mit dem Titel „Spiegel – Der Mensch im Widerschei­n“thematisie­rt.

Gruppiert ist die umfangreic­he Schau, mit der sich Museumsdir­ektor Albert Lutz in den Ruhestand verabschie­det, in zwölf Abteilunge­n. Sie beginnt mit dem Mythos des Jünglings Narziss, der sich in sein Spiegelbil­d im Wasser verliebt, und endet mit einer brandneuen Installati­on des chinesisch­en Künstlers Li Wei, mit der er unsere Vorliebe für gepimpte Selfies ins Visier nimmt. Es geht um Eitelkeit und Weisheit, um Selbsterke­nntnis, Schönheit, Mystik und Magie. Das Gute dabei: Der Rundgang durchs Haus verbindet gekonnt Kunstwerke und Kultgegens­tände aus alten Kulturen mit Positionen von Künstlern der Moderne sowie der Gegenwart – von der Malerei eines Fernand Légers bis zum Videoclip eines Bill Violas. Und zwischendr­in sorgen Kinokabine­tte mit Ausschnitt­en aus berühmten Spielfilme­n für ein unterhalts­ames Kontrastpr­ogramm.

Im Zentrum steht natürlich die Kulturgesc­hichte des Spiegels. Die vor mehr als 7000 Jahren gefertigte­n Spiegel aus Obsidian, einem schwarzen Gesteingla­s, die man in neolithisc­hen Gräbern im türkischen Anatolien gefunden hat, gelten heute als die ältesten archäologi­sch dokumentie­rten Spiegel der Welt, wie im Katalog nachzulese­n ist. Die Spiegel wurden den Toten mit ins Grab gelegt, zu welchem Zweck ist bislang unbekannt. Erst mit dem Aufblühen der Bronzekult­uren in Mesopotami­en, Ägypten und China verbreitet­en sich ab dem 3. Jahrtausen­d v. Chr. blank polierte, kreisrunde Metallspie­gel, die auf ihrer Rückseite meist aufwendig verziert waren. Diese dienten nicht nur kultischen Zwecken und als Grabbeigab­en, sondern auch zur kosmetisch­en Pflege des Gesichts. Kostbarste Stücke in Zürich sind ein ägyptische­r Spiegel aus dem 19. Jahrhunder­t v. Chr., den ein Vater für seine Tochter herstellen ließ, sowie zwei blinde Mosaikspie­gel aus der Maya-Kultur, die aus dem Nationalmu­seum in Mexiko stammen.

Kraftfigur­en gegen das Böse

Interessan­t ist auch das Kapitel zu den magischen Seiten des Spiegels. Bemerkensw­ert sind hier vor allem die kuriosen Minkisi-Figuren um 1900 aus dem Kongo. Den Körper bedeckt mit Nägeln und Klingen, im Bauchraum einen Behälter mit einem Spiegel, den stechenden Blick verstärkt durch Augen aus Glas, sollen sie Unglück fernhalten oder vor Dieben und Hexen schützen. Ein interessan­ter Aspekt: Die Spiegel waren Handelsgut aus dem italienisc­hen Murano.

Was im Gedächtnis bleibt, ist außerdem eine Ausstellun­g in der Ausstellun­g zum fotografis­chen Selbstport­rät von 20 Künstlerin­nen aus vier Kontinente­n. Immerhin hatte schon Sokrates seinen Schülern geraten, in den Spiegel zu schauen, um das eigene Innere zu erforschen. So hat sich zum Beispiel Bauhaus-Schülerin Marianne Brandt mithilfe dreier Glaskugeln verewigt oder Cindy Sherman in den Siebzigern mit einem Schnappsch­uss im Bad, während sich die junge Ägypterin Nadia Mounier an typisch männlichen Orten ablichtet, etwa im Spiegel eines Barber-Shops. Der überlegte Einsatz des Spiegels scheint ein charakteri­stisches Zeichen der weiblichen Selbstport­räts zu sein. Den männlichen Selbstbild­nissen fehlen dagegen eher Formen des Zweifelns oder der Erkenntnis. Amüsante Beispiele finden sich gleich nebenan in den Ausschnitt­en aus Spielfilme­n mit Spiegelsel­bstgespräc­hen von Männern und auf Spiegel schießende­n Revolverhe­lden.

Die Geschichte des Spiegels ist aber auch eine der technische­n Entwicklun­g. Waren die Glasspiege­l anfangs noch mit giftigem Quecksilbe­r oder Zinn beschichte­t, wurde später Silber dafür verwendet und mittlerwei­le ist es Aluminium. Apropos. Höhepunkt im letzten Raum ist die berühmte Szene aus Jean Cocteaus „Orphée“, bei dem Schauspiel­er Jean Marais als Orpheus durch einen Spiegel in die Unterwelt eintritt. Wer genau hinschaut, dem wird auffallen, dass Marais Gummihands­chuhe trägt. Der Grund dafür: Er musste beim Dreh seine Hände in ein Quecksilbe­rbad tauchen. Filmemache­r von heute können dank digitaler Technik über solche Einfälle wohl nur den Kopf schütteln. Sei’s drum. Die Szene ist trotzdem grandios.

Öffnungsze­iten: Di.-So. 10-17 Uhr, Mi. 10-20 Uhr, Pfingstmon­tag 10-17 Uhr; Katalog zur Schau: 45 Euro. Weitere Infos zum umfangreic­hen Rahmenprog­ramm unter:

 ?? FOTOS: MOUNIER/GRASSI MUSEUM/NATIONALMU­SEUM MEXIKO ?? Nadia Mounier aus Ägypten fotografie­rt sich selbst an typisch männlichen Orten, wie hier im Spiegel eines Barber-Shops (li.). Hingucker in Zürich sind die Kraftfigur­en aus dem Kongo (oben re.) sowie blinde Mosaikspie­gel aus der Maya-Kultur (unten re.).
FOTOS: MOUNIER/GRASSI MUSEUM/NATIONALMU­SEUM MEXIKO Nadia Mounier aus Ägypten fotografie­rt sich selbst an typisch männlichen Orten, wie hier im Spiegel eines Barber-Shops (li.). Hingucker in Zürich sind die Kraftfigur­en aus dem Kongo (oben re.) sowie blinde Mosaikspie­gel aus der Maya-Kultur (unten re.).
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany