Der Horror im Alltag
Prozess gegen Müllwagenfahrer, der ein Kind totgefahren hat, eingestellt – Assistenzsysteme könnten helfen
KÖLN (dpa) - Ein Müllwagen biegt nach rechts ab – und überfährt einen Jungen, der mit seinem Fahrrad unterwegs ist: Der Unfalltod des Siebenjährigen in Köln löste vor einem Jahr überregional Bestürzung aus. Auch beim Prozess wegen fahrlässiger Tötung gegen den Müllwagenfahrer vor dem Kölner Amtsgericht ist die Stimmung gedrückt. Es handele sich um ein tragisches Unfallgeschehen, „das uns allen hier nahegeht“, sagt die Richterin am Mittwoch. Der Verteidiger spricht von einem „Augenblicksversagen“seines Mandanten: Der 38-Jährige, selbst Vater von zwei Kindern, habe den Jungen einfach nicht gesehen.
Laut Anklage hätte der Müllwagenfahrer ihn aber sehen können – wenn er im entscheidenden Moment in seinen Seitenspiegel geschaut hätte. Denn dort sei der Junge vor dem Zusammenstoß 3,5 Sekunden lang sichtbar gewesen.
Alle sind sich einig
Doch auch die Staatsanwältin ist damit einverstanden, dass das Verfahren gegen den Angeklagten eingestellt wird. Bereits kurz nach Prozessbeginn einigen sich Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf eine Einstellung unter der Auflage, dass der Angeklagte ein Monatsgehalt – 2000 Euro – an ein Kinderhospiz zahlt. Er gilt dann als nicht vorbestraft. Auch die NebenklageAnwältin, die die Eltern des Jungen vertritt, ist bei dem Rechtsgespräch dabei und hat keine Einwände.
Alle sind sich einig, dass eine weitergehende Bestrafung des Angeklagten, der seit dem Unfall arbeitsunfähig und in psychologischer Behandlung ist, nicht erforderlich ist. Die geladenen Zeugen und der Gutachter brauchen vor Gericht nicht aussagen.
Fest steht aber: Der Kölner Unfall ist kein Einzelfall. Immer wieder passieren beim Rechtsabbiegen von Lastwagen folgenschwere Zusammenstöße mit Radfahrern. Allein in Nordrhein-Westfalen kamen 2018 nach Angaben des Landesinnenministeriums elf Radfahrer bei solchen Unfällen ums Leben. Bundesweit waren es nach einer Statistik des Fahrradclubs ADFC 34.
Experten fordern schon seit Langem den Einbau von Abbiege-Assistenten, die Lkw-Fahrer warnen, wenn sich ein Radfahrer neben ihrem Fahrzeug befindet. „Fast alle Unfälle dieser Art könnten verhindert oder zumindest in ihrer Schwere deutlich verringert werden“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV).
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) setzt sich für den verpflichtenden Einbau von Assistenzsystemen in Lastkraftwagen ein – kann dies aber nicht im nationalen Alleingang anordnen. Bis zu einer EU-weiten Regelung werden noch einige Jahre vergehen.
Bis dahin sieht der ADFC neben Herstellern und Speditionen auch die Kommunen und Länder in der Pflicht, ihre Fuhrparks freiwillig mit Warnsystemen auszustatten. „Kommunen müssen mit gutem Beispiel vorangehen und Müll- und Straßenreinigungsfahrzeuge schnellstens mit diesen Systemen nachrüsten“, fordert der ADFC.
Einzelne Kommunen haben ihre Flotte bereits technisch aufgerüstet oder planen dies. So wollen die Kölner Abfallwirtschaftsbetriebe ihre knapp 200 Müllwagen bis Ende dieses Jahres mit Rundum-Kamerasystemen ausstatten. Kosten: Rund 500 000 Euro. Die Stadt Dortmund hat kürzlich die Nachrüstung von 56 Lkw mit Abbiege-Assistenten beschlossen – für 210 000 Euro.
Die hohen Nachrüstungskosten stellten für viele ohnehin klamme Kommunen eine große Hürde dar, erklärt der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB). Das „Förderprogramm Abbiege-Assistenzsystem“des Bundes sei zwar hilfreich – jedoch sind die für 2019 bereitgestellten fünf Millionen Euro schon längst vergeben. Deshalb müsse der Betrag aufgestockt werden, verlangt der DStGB. Auch das nordrhein-westfälische Verkehrsministerium hält eine Erhöhung „für angebracht“. Scheuer will das Förderprogramm nach Angaben einer Sprecherin fortsetzen.
Ob ein Abbiege-Assistent den schrecklichen Müllwagenunfall in Köln hätte verhindern können, wurde im Prozess nicht erörtert. Es wäre wohl auch eine theoretische Diskussion. Die Eltern des Opfers müssen ohne ihren Sohn lebe.