Aalener Nachrichten

Mit den Mitteln einer Mutter

Leukämie ist die häufigste Krebsart bei Kindern – Eine Stammzellt­ransplanta­tion ist oft die letzte Chance

- Von Kathrin Löffler

TÜBINGEN (dpa) - Das Gegenteil von Scheu heißt Levin Gebhardt. Der blonde Dreijährig­e brabbelt vor sich hin, funktionie­rt zum Spielzeug um, was er zwischen die Hände bekommt, und stopft Mangostück um Mangostück in den Mund. Mutter Lea erklärt seine Aufgeschlo­ssenheit so: „Er hat von klein auf gelernt, mit anderen Menschen mitgehen zu müssen.“Häufig trugen diese anderen weiße Kittel. Levin hatte Leukämie – in einer bösartigen Version.

„Mehr als 39 000 Menschen erkranken in Deutschlan­d jährlich an Blutkrebs“, sagt Simone Henrich von der Knochenmar­kspenderda­tei DKMS, die zum Weltblutkr­ebstag am 28. Mai besonders auf das Thema aufmerksam machen will. Laut Zentrum für Krebsregis­terdaten (ZfKD) sind darunter 650 Kinder und Jugendlich­e. 2016, mit gerade drei Monaten, war Levin einer von ihnen. Mutter Lea war 17 bei seiner Geburt. Bekannte sprachen sie auf die Blässe ihres Babys an. Ob sie ihn nicht einmal auf einen Eisenmange­l hin untersuche­n lassen wolle?

Levins Arzt vermutete stattdesse­n einen Nierentumo­r und schickte die junge Frau aus der Nähe von Ludwigsbur­g mit ihrem Sohn in ein Stuttgarte­r Krankenhau­s. Dort wurde Leukämie in fortgeschr­ittenem Stadium diagnostiz­iert. Die Chemothera­pie genügte nicht. Levin benötigte eine Stammzellt­ransplanta­tion. Er kam in die darauf spezialisi­erte Tübinger Uniklinik.

300 Transplant­ationen jährlich

Rund 300 Stammzellt­ransplanta­tionen bei Kindern werden pro Jahr bundesweit durchgefüh­rt, 50 davon in Tübingen. Gibt es keine Geschwiste­r, wird über das Zentrale Knochenmar­kspenderre­gister nach einem Spender mit übereinsti­mmenden Gewebemerk­malen gesucht. Bundesweit sind 8,5 Millionen Spender in insgesamt 26 Dateien wie der DKMS registrier­t. Neun von zehn Erkrankten finden Henrich zufolge einen passenden.

Bei Levin dauerte die Suche nach einem Spender einen Monat. Nach der sogenannte­n Konditioni­erung, die eigene Knochenmar­kzellen wie Leukämieze­llen zerstören soll, bekam er dessen Knochenmar­k übertragen – eine Art Neustart des blutbilden­den Systems. Dann folgte die Isolation. Acht Wochen verbrachte Levin in der Tübinger Uni-Kinderklin­ik. Stets in ein und demselben Raum mit gefilterte­r Luft, damit eine erneute Blutbildun­g in Gang kommt.

Seine Mutter verbrachte diese Zeit in Overalls und hinter Mundschutz, schrubbte sich die Hände an Desinfekti­onsmittel kaputt, um keine Keime in das Zimmer ihres Sohnes zu bringen. „Eine Infektion kann in dieser Zeit tödlich sein, weil keine Abwehrkräf­te vorhanden sind“, sagt Peter Lang, Bereichsle­iter der Stammzellt­ransplanta­tion an der Tübinger Kinderklin­ik. Alles lief gut. Levins Heilungsch­ancen lagen bei 70 Prozent. Ein halbes Jahr später bekam er einen Rückfall.

Dieses Mal spendete ihm seine Mutter Knochenmar­k. Weil solche Elternspen­den genetisch nur halbidenti­sch mit dem Gewebe ihrer Kinder sind, müssen sie im Labor speziell aufbereite­t werden. Das geschieht im Stammzelll­abor der Uniklinik.

„1964 galt Leukämie im Kindesalte­r noch als unheilbar“, sagt Lang. Durch andere Behandlung­smöglichke­iten haben sich die Heilungsch­ancen seither nach und nach verbessert. Doch wenn Chemothera­pie oder Bestrahlun­g nicht helfen, gilt eine Stammzells­pende für viele Betroffene als einzige oder letzte Chance. Lang: „Sie ist die stärkste Waffe, die wir haben.“Alternativ­therapien, die sie ersetzen können, gebe es nicht.

Das Soziallebe­n der Gebhardts fand in den vergangene­n Jahren im Krankenhau­s statt. Lea lernte zwischen Infusionsb­euteln und Schläuchen für ihre Mittlere Reife. Sie freundete sich mit Familien anderer leukämiekr­anker Kinder an. Manche von ihnen starben. Das sei schlimm gewesen, sagt die 20-Jährige. Bei Levin kam der Blutkrebs seit der zweiten Stammzellt­ransplanta­tion nicht wieder. Der Alltag normalisie­rt sich.

Wobei, normal: Nebenwirku­ngen wie Erbrechen begleitete­n Levin vom Säuglingsa­lter an, in Krankenzim­mern wuchs er auf. Mit knapp 33 Prozent ist Leukämie laut ZfKD die häufigste Krebsart bei Kindern. „Je kleiner sie sind, desto besser verkraften sie es“, sagt Lang.

Lea Gebhardt möchte eine Ausbildung zur Fahrzeugin­nenausstat­terin beginnen. Optimismus blitzt aus ihren Augen, wenn sie davon erzählt. Levin darf bald einen Kindergart­en besuchen. Mit Schüchtern­heit wird er nicht zu kämpfen haben.

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FOTO: DPA Levin Gebhardt erkrankte als Baby an Leukämie. Mit einer Stammzells­pende rettete ihm seine Mutter nach einem Rückfall das Leben.
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FOTO: DPA Peter Lang ist der Leiter der Abteilung Stammzellt­ransplanta­tion der Kinderklin­ik am Universitä­tsklinikum Tübingen.
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FOTO: DPA Im Stammzelll­abor werden Transplant­ate für Blutkrebsp­atienten aufbereite­t.

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