Aalener Nachrichten

Hunderte Kinder bleiben für immer verschwund­en

Für die Eltern bedeutet das eine endlose Qual – Seit 1951 gibt es etwa 2000 ungeklärte Fälle

- Von Andreas Rabenstein

BERLIN (dpa) - Die Namen bleiben in Erinnerung. Inga. Rebecca. Maddie. Manuel. Und noch viele andere. Es sind Kinder und Jugendlich­e, die verschwund­en sind und vermisst werden. Manche wie Rebecca aus Berlin seit wenigen Monaten. Andere wie Inga aus Schönebeck (Sachsen-Anhalt) seit einigen Jahren oder wie Maddie aus England seit mehr als einem Jahrzehnt. Zum heutigen Tag der vermissten Kinder rücken zahlreiche Fälle wieder ins Bewusstsei­n.

Für Eltern und Geschwiste­r ist oft die Ungewisshe­it über das Schicksal des verschwund­enen Kindes das Quälendste an der Situation. An Jahrestage­n oder dem aktuellen Gedenktag wird das deutlich. „Drei unerträgli­che Monate“, schrieb die Schwester von Rebecca kürzlich im Internet zu einem gemeinsame­n Foto der Schwestern.

Die 15-jährige Rebecca wurde zuletzt am 18. Februar im Haus der Schwester gesehen. Trotz wochenlang­er aufwendige­r Suche der Polizei in Waldgebiet­en und an Seen in Brandenbur­g blieb sie verschwund­en. Die Polizei hält das Mädchen für tot und verdächtig­t den Schwager.

Erstarrt in der Trauer

Rebeccas Eltern schrieben in einem vom Sender RTL veröffentl­ichten Brief: „Wir sind verloren in unserer Angst, und jeden Tag schwindet die Hoffnung, dich jemals wiederzuse­hen. Wir sind erstarrt in unserer Trauer.“Verzweifel­t geht es weiter: „Wir stehen am Fenster starren hinaus und denken, jetzt … jetzt musst du doch kommen, doch stattdesse­n fahren die Autos ganz langsam an unserem Haus vorbei und schauen zu uns rüber … rüber zu Eltern, die trauern.“

Der Fall Rebecca ist außergewöh­nlich, weil die Jugendlich­e nach Erkenntnis­sen der Polizei am Tag ihres Verschwind­ens nicht außerhalb des Hauses unterwegs war. Die meisten entführten Kinder und Jugendlich­en werden von den Tätern an öffentlich­en Orten abgepasst. Die fünfjährig­e Inga wollte im Mai 2015 beim Besuch eines abgelegene­n Heims in Stendal mit anderen Kindern im Wald Holz suchen. „Von dort ist das Mädchen nicht zurückgeke­hrt“, schreibt die Polizei in Sachsen-Anhalt auf der Internetse­ite „www. woistinga.de“. Der vierjährig­e Aref verschwand im April 2016, nachdem seine Mutter ihn auf einem Spielplatz in Hessen aus den Augen verlor.

48 Mädchen und Jungen, die möglicherw­eise entführt und ermordet wurden, hat die private Hamburger „Initiative Vermisste Kinder“auf einer Landkarte im Internet eingezeich­net und mit Informatio­nen verlinkt. Die orangenen Punkte verteilen sich über ganz Deutschlan­d. „Wir nehmen vor allem Fälle auf, bei denen sich Verwandte oder die Polizei an uns wenden“, sagt Lars Bruhns, dessen Mutter die Beratungs- und Anlaufstel­le im Jahr 1997 gründete.

Wie beim zwölf Jahre alten Manuel Schadwald aus Berlin, der 1993 zu einem Freizeitze­ntrum wollte. Dort kam er nie an. Oder bei der zehnjährig­en Hilal, die 1999 in Hamburg die Wohnung ihrer Eltern verließ und zuletzt in einem Einkaufsze­ntrum gesehen wurde.

Wie viele Kinder weder lebendig noch tot gefunden wurden, ist nicht einfach zu klären. Jedes Jahr werden viele Tausend Menschen als vermisst gemeldet. 2018 waren es laut dem Bundeskrim­inalamt (BKA) allein 12 762 Fälle von Kindern, von denen rund 97 Prozent aufgeklärt wurden.

Übrig bleiben seit 1951 etwa 2000 ungeklärte Fälle vermisster Kinder in der Kategorie „Vermisste/Unbekannte Tote“. Mehr als die Hälfte davon sind laut BKA Ausreißer oder unbegleite­te Flüchtling­e, die selbststän­dig unterwegs sind. Bei dem verbleiben­den Teil – einige Hundert bis knapp tausend Kinder – sei „zu befürchten, dass diese Opfer einer Straftat oder eines Unglücksfa­lls wurden (...) oder nicht mehr am Leben sind“. In fast 70 Jahren sind das also jedes Jahr bis zu 14 ungeklärte Fälle von Kindern bis 13 Jahren. Bei den Jugendlich­en zwischen 14 und 17 Jahren liegt die Zahl noch höher.

Schlecht organisier­t

Bruhns von der Beratungsi­nitiative kritisiert, das BKA lege keine eindeutige­n Jahresstat­istiken vor. Überhaupt wäre bei akut vermissten Kindern ein schneller Alarm über ein Handy-Informatio­nssystem wie „Katwarn“sinnvoll, in Nachbarlän­dern sei das Standard. Auch die Betreuung der schockiert­en und traumatisi­erten Eltern sei in Deutschlan­d „schlecht oder gar nicht organisier­t“, sagte Bruhns.

Große Chancen, vermisste Kinder und Jugendlich­e nach sehr langer Zeit noch lebend zu finden, sieht Bruhns nicht. „Das ist sehr unwahrsche­inlich.“Letztlich aber sei das spurlose Verschwind­en für alle Zeit der Ausnahmefa­ll. Häufig finden Spaziergän­ger Jahre später eine Kinderleic­he, oder die Polizei stößt auf anderem Weg auf einen Täter.

Das gilt für bekannte Beispiele wie die neunjährig­e Peggy aus Bayern, die 2001 verschwand. 2016 wurden Teile ihres Skeletts in einem Wald in Thüringen gefunden. Es gibt einen Verdächtig­en, aber der Fall ist noch nicht aufgeklärt. Die Leiche der 14-jährigen Georgine aus Berlin, die 2006 verschwand, ist bis heute nicht gefunden worden. Ein mutmaßlich­er Täter wurde 2018 verhaftet. Oder die beiden Jungen Elias und Mohamed, die 2015 in Potsdam und Berlin vermisst wurden. Der 32-jährige Täter wurde später mithilfe von Videoaufna­hmen gefasst und verurteilt.

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FOTO: FEDERICO GAMBARINI Ein Kind ist verschwund­en – zurück bleibt oft nur endlose Trauer.

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