Debakel für die SPD, Grüne im Hoch
Sozial- und Christdemokraten stürzen bei Europawahl ab – CDU in Bremen vorn
BERLIN/BREMEN/BRÜSSEL (sal/sz/ dpa) - Union und SPD haben bei der Europawahl historische Pleiten erlitten und Millionen Wähler an die Grünen verloren. Die Ökopartei löst erstmals bundesweit die SPD als zweite Kraft ab, die Große Koalition kommt damit immer stärker in Bedrängnis. Auch europaweit verlieren Christdemokraten und Sozialdemokraten, Nationalisten und Populisten dagegen gewinnen hinzu, aber nicht genug für einen echten Rechtsruck.
Bei der Wahl des Landesparlaments in Bremen überflügelte die CDU erstmals seit dem Krieg die SPD. Die Sozialdemokraten müssen womöglich in ihrer einstigen Hochburg in die Opposition gehen.
Die Wahlen waren der erste Stimmungstest für die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer seit ihrem Amtsantritt im Dezember. Kramp-Karrenbauer sagte, das EUErgebnis entspreche nicht dem Anspruch der Union als Volkspartei.
Im Willy-Brandt-Haus war die Bestürzung groß, als die Niederlagen in Europa und in Bremen bekannt wurden. Doch Parteichefin Andrea Nahles will durchhalten, bis Ende 2019 würden die wichtigsten Schritte des SPD-Erneuerungsprozesses abgeschlossen sein, kündigte sie an. „Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre, diesen Weg auf halber Strecke abzubrechen“, warnte sie. Nahles sprach sich zudem für die Fortführung der Großen Koalition aus. Doch in der SPD wurden bereits erste öffentliche Forderungen laut, Nahles müsse Konsequenzen ziehen. „In Berlin müssen jetzt diejenigen Verantwortung übernehmen, die den heutigen personellen und politischen Zustand in der SPD bewusst herbeigeführt haben“, sagte der alte Parteichef Sigmar Gabriel dem „Tagesspiegel“.
Die Grünen bezeichneten ihr gutes Ergebnis als „Signal für mehr Klimaschutz“. „Das ist ein Sunday for Future“, sagte Spitzenkandidat Sven Giegold in Anspielung auf die Bewegung „Fridays for Future“, die sich für einen besseren Klimaschutz einsetzt. AfD-Chef Alexander Gauland sprach von einem „schwierigen Wahlkampf“für seine Partei. FDPChef Christian Lindner sah seine Partei als „kleinen Wahlgewinner“. Der Linke-Spitzenkandidat bei der Europawahl, Martin Schirdewan, äußerte sich unzufrieden mit dem Abschneiden seiner Partei.
Nach einer Europawahl-Hochrechnung von 20 Uhr für Deutschland bleibt die Union zwar stärkste Kraft, verliert aber stark auf knapp 29 Prozent. Weit schlimmer ist das Ergebnis für die SPD: Sie kommt mit 15,5 Prozent nur noch auf den dritten Platz. Die Grünen fahren mit knapp 21 Prozent ihr mit Abstand bestes EUErgebnis ein. Die AfD bleibt mit fast elf Prozent etwas unter den Erwartungen. Die FDP fällt mit 5,4 Prozent weit hinter ihr Bundestagsergebnis. Auch die Linke schwächelt mit 5,4 Prozent. Eine große Rolle hat offensichtlich das Thema Klimaschutz gespielt: Die Grünen gewinnen nach einer Infratest-dimap-Analyse von SPD und Union jeweils mehr als eine Million Wähler.
Europaweit sieht es für Christ- und Sozialdemokraten ähnlich aus. Unter den 751 Europaabgeordneten kommt die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) demnach auf 174 Sitze, 43 weniger. Die Sozialdemokraten schaffen noch 147 Mandate (minus 39). Die Liberalen liegen bei 79 (plus elf), allerdings offenbar ohne die Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, mit der sie sich verbünden wollen. Dahinter kommen die Grünen mit 66 Sitzen (plus 14). Die Linke kommt auf 47 (minus fünf ). Die bisher drei rechtspopulistischen und nationalistischen Fraktionen kommen zusammen auf 177 Sitze, 23 mehr als bisher.
In Bremen hängt jetzt alles von den Grünen ab: Wer sie für ein Bündnis gewinnen kann, dürfte Regierungschef werden. Rechnerisch möglich wäre es, dass das bisherige rot-grüne Bündnis um die Linken erweitert wird und der Sozialdemokrat Carsten Sieling doch noch Bürgermeister bleibt. Genauso gut denkbar wäre aber auch eine Jamaika-Koalition von CDU, Grünen und FDP unter dem CDU-Spitzenkandidaten Carsten Meyer-Heder.
BERLIN - Die Genossen waren vorbereitet. Die Gesichter im WillyBrandt-Haus blieben entsprechend reglos, als 15,5 Prozent für die SPD bei der Europawahl in der ersten Prognose verkündet wurden. Es rumort schon lange in der Partei, und schon während des Wahlkampfs gab es erste Störmanöver, ob es nun durchgestochen wurde, dass Martin Schulz sich vorstellen könne, Andrea Nahles an der Fraktionspitze abzulösen, oder ob Sigmar Gabriel verkündete, dass er in den nächsten Bundestag nicht mehr einziehen will. „Ich rate davon ab, Personaldiskussionen zu führen“, lautet das erste Statement von SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Dass diese Diskussionen schon während des Wahlkampfs losgingen, das sei die alte Politik, ärgert sich Klingbeil. „Hört auf mit diesen Spielchen!“
Für die SPD kam es knüppelhart. Bei der Europawahl ein historischer Absturz, und bei der Landtagswahl in Bremen liegt die SPD hinter der CDU. Welches der beiden Ergebnisse für die SPD schlimmer ist, will niemand bewerten. Beide schmerzen. Sehr sogar. SPD-Chefin Andrea Nahles und die Europa-Spitzenkandidatin Katarina Barley kommen zusammen aufs Podium im BrandtHaus, sie haben sich gegenseitig die Hand auf den Rücken gelegt, es gilt, sich zu stärken.
Vor allem Andrea Nahles ist angeschlagen. Sie wird um ihre Position kämpfen müssen, vor allem wohl um ihren Posten als Fraktionschefin. In den letzten Wochen hat sie im Wahlkampf zwar noch die Trendwende für die Sozialdemokratie beschworen, wie sie in Spanien, in Finnland, stattfand. Und im Nachbarland Niederlande verdoppelte die Arbeiterpartei ihr Ergebnis bei der Europawahl. Doch in Berlin deutete nichts auf eine ähnliche Entwicklung hin.
Mehr ging nicht
Die Sozialdemokraten hatten bei den letzten Europawahlen mit ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz, der auch Präsident des Europäischen Parlaments wurde, ein Ausnahmeergebnis von über 27 Prozent (2004 waren es 21,5 Prozent, 2009 20,8) bei den Europawahlen erzielt. Spitzenkandidatin Katarina Barley wollte sich vor der Wahl nie festlegen, was für sie ein Erfolg wäre. Dass sie die 27 Prozent des Vorgängers Schulz erreicht, galt als ausgeschlossen. Doch alles weit unter 20 Prozent wird als Misserfolg gewertet.
„Natürlich bin ich tief enttäuscht“, sagt Barley. Sie habe im Wahlkampf die Mobilisierung in der eigenen Partei gespürt und unglaublich motivierte Genossen erlebt. Aber es sei nicht gelungen, das in Wählerstimmen umzusetzen. Noch am Abend will sie ihr Amt als Justizministerin in Berlin zur Verfügung stellen, um in Brüssel weiterzumachen. „Ich habe wirklich alles gegeben, was ich konnte. Mehr ging nicht“, sagt Barley, sie erhält einen langen, warmen Applaus im BrandtHaus, der deutlich machen soll: Niemand denkt, dass der Misserfolg an Barley liegt.
Extrem enttäuschend
Andrea Nahles kann sich der Gunst der Genossen nicht so sicher sein. Sie lässt aber an diesem Abend keinen Zweifel, dass sie weitermachen will, als Partei- und als Fraktionschefin. Auch wenn das Ergebnis, bei der Europawahl als drittstärkste Kraft hinter den Grünen zu landen, extrem enttäuschend sei. „Ich sage Glückwunsch in Richtung Grüne und Kopf hoch in Richtung SPD“, so Nahles.
Doch längst laufen sich andere in der Partei warm. Schon vor einer Woche gab es Gerüchte, dass der Fraktionsvize Achim Post, NRWLandesgruppenchef, bereitstünde, Nahles an der Fraktionsspitze abzulösen. Es folgten weitere, bekanntere Anwärter: Der frühere SPD-Chef Martin Schulz soll sein Interesse am Fraktionsvorsitz in einem Gespräch mit Nahles bekundet haben, allerdings nur, wenn diese von sich aus verzichten wolle. Auch Schulz kommt aus dem mitgliederstarken NRW. Doch kann er als Mann von gestern die SPD nach vorne führen? Viele halten Schulz für eine gute Lösung. Er hat sich auch nach seinem Rücktritt als Parteichef immer wieder leidenschaftlich für die Partei eingesetzt. 94 Auftritte absolvierte er im Europawahlkampf. Die Fraktion will im September eine neue Spitze wählen.
Doch personelle Schnellschüsse am Wahlabend hat die SPD in den vergangenen Jahren genug gehabt. Lothar Binding, der Heidelberger Abgeordnete, mahnt, dass solche Schnellschüsse nichts bringen. „Wir müssen uns jetzt in Ruhe mit dem Ergebnis auseinandersetzen.“
Junge Generation wendet sich ab
Andrea Nahles kündigt Schlussfolgerungen an. Mit ihrem Sozialstaatskonzept und der Grundrente sei die SPD auf dem richtigen Weg, aber das reiche noch nicht, so Nahles. Die SPD hat bei der Europawahl 1,6 Millionen Wähler an die Grünen verloren, die Grünen sind stärkste Partei bei den unter 30-Jährigen. Soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz müsse man noch glaubwürdiger gestalten.
„Bis Ende 2019 sind die wichtigsten Schritte zur Neuaufstellung geschafft. Das Schlimmste wäre, jetzt auf halber Strecke abzubrechen“, warnt Nahles. Sie erhält für diese Mahnung Applaus, aber ob die Dämme in den nächsten Tagen halten, ist unsicher.
Grüne als Königsmacher
Die Niederlage in Bremen wird im Brandt-Haus nur wenig thematisiert. Bremen wurde 73 Jahre lang von der SPD regiert, Ministerpräsident Carsten Sieling kam 2015 überraschend ins Amt, als Vorgänger Jens Böhrnsen wegen fünf Prozent Stimmverlusten den Posten 2015 gleich nach der Wahl abgab. So gab in Bremen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ununterbrochen ein Sozialdemokrat den Ton an. Das hat auch damit zu tun, dass die Arbeiter der Werften und der Stahlindustrie klassisches SPD-Klientel waren. Bremens ehemaliger Bürgermeister Henning Scherf spricht aber auch heute noch von einem besonderen Stil in Bremen, von einer besonderen Solidarität. Carsten Sieling meint: „In Bremen hält man zusammen und setzt sich auch solidarisch für seinen Nachbarn ein, das sind alles Ergebnisse sozialdemokratischer Politik, weil wir das immer so angelegt haben.“ Den Absturz hat das nicht gestoppt.
Andrea Nahles sagt, Carsten Sieling und die Bremer SPD seien bodenständig genug, um zu alter Stärke zurückzufinden. „Rot-Rot-Grün ist in Bremen möglich“, so Nahles, die Grünen müssten jetzt eine Richtungsentscheidung treffen. Wie die ausfällt, da sind sich die Genossen allerdings nicht so sicher. „Falsche Fuffziger“knurrt ein Genosse im Willy-Brandt-Haus, als der Siegestaumel der Grünen gezeigt wird. Denn die Grünen könnten in Bremen auch in ein Jamaika-Bündnis mit CDU-Führung wechseln, statt dem Wahlverlierer SPD noch einmal ins Amt zu helfen. Eine Große Koalition haben die Sozialdemokraten für Bremen ausgeschlossen.
Macht und Prozente
In Europa ging es um Prozente, in Bremen um die Macht. Deshalb hieß es immer, dass der Ausgang der Wahl an der Weser noch entscheidender für die Zukunft der SPD sein könnte als die Europawahl.
Aber auch in anderen Bundesländern wächst die Nachdenklichkeit: Der baden-württembergische SPDLandeschef Andreas Stoch meint: „Es ist ein Wahlabend, über den wir in der Partei fair, aber auch schonungslos und zukunftsgerichtet reden müssen, auf allen Ebenen. Um die 15,5 Prozent bei der Europawahl bundesweit sind für die SPD eine herbe Enttäuschung – selbst dann, wenn das Ergebnis vom letzten Mal ehrlicherweise in weiter Ferne lag.“Die SPD brauche insgesamt einen Kassensturz, denn man müsse sich ja auch mit den Verlusten bei der Kommunalwahl auseinandersetzen.
GroKo wieder Thema
Nicht nur die SPD, auch die Union hat kräftig Federn gelassen. Der frühere CSU-Chef Erwin Huber führt das schlechte Ergebnis der Union insgesamt auf das „schlechte Image der Bundesregierung“zurück. „Wenn wir auf der Bundesebene insgesamt verlieren, schreibe ich das der Großen Koalition, ihrem Erscheinungsbild und dem Streit zu“, sagte Huber in München. Die große Koalition habe das Vertrauen der Bürger schwer enttäuscht.
Mit ähnlichen Diskussionen rechnet man in den nächsten Tagen auch in der SPD. Parteilinke könnten in der Niederlage einen neuen Beweis dafür sehen, dass die GroKo der SPD schadet. Andrea Nahles dagegen rät ihrer Partei den Verbleib. Es sei wichtig, in der Großen Koalition für soziale Politik zu sorgen. Das Grundrenten-Modell sei schon auf den Weg gebracht worden. Dass dies gegen den erklärten Willen von Merkel geschah, sagt sie nicht.