Großes Interesse am Schicksal Europas
1400 Journalisten aus aller Welt berichten am Wahltag aus dem Plenarsaal des EU-Parlaments in Brüssel
BRÜSSEL - Als ausgestorbene Betonwüste präsentiert sich das Europaviertel an diesem Wahlsonntag – wie an jedem anderen Wochenende. Viele Mitarbeiter des Brüsseler Betriebs sind nach Hause geflogen, um ihre Stimme abzugeben. Wäre da nicht die lange Schlange Wahlwilliger vor dem spanischen Konsulatsgebäude, könnte man fast vergessen, dass sich heute Europas Schicksal entscheiden soll.
Im Innern des Parlamentsgebäudes allerdings geben sich die Organisatoren alle Mühe, den Anlass mit größtmöglicher Dramatik in Szene zu setzen. Im Plenarsaal, wo sonst die 751 Abgeordneten Gesetze beschließen, sind Arbeitsplätze für die Journalisten vorbereitet. Ein Sprecher verkündet stolz, dass hier und in Straßburg in der abgelaufenen Legislatur 700 neue Gesetze beschlossen worden seien.
1400 Medienvertreter aus aller Welt hätten sich zur Berichterstattung angemeldet. Technisch vorbereitet ist die Parlamentsverwaltung darauf nicht. Obwohl sämtliche Informationen nur übers Internet zur Verfügung gestellt werden, ist das Netz so schwach, dass die Verbindung ständig zusammenbricht. Darüber können auch zu dramatischer Musik über die Bildschirme tanzende gelbe Sterne nicht hinwegtrösten.
Auf riesigen Bildschirmen, wo später am Abend Hochrechnungen zu sehen sind, werden Schnappschüsse und kleine Videos aus den Wahllokalen projiziert: Ein Este sitzt – in ein Badetuch gewickelt – mitten in der Wildnis vor seiner Sauna, steckt seine Wahlkarte ins Laptop und gibt seine Stimme ab. Manfred Weber, Spitzenkandidat der Konservativen für das Amt des Kommissionspräsidenten, nähert sich in Endlosschleife seiner niederbayerischen Wahlkabine, über der ein großes Holzkreuz prangt. In der englischen Provinz steht ein breit grinsender Nigel Farage vor dem Wahllokal. Er weiß schon jetzt, dass er die europäische Politik gehörig aufmischen wird.
Mehrheiten noch nicht klar
Um Viertel nach sechs ist dann klar: Das Drachentattoo auf dem linken Oberarm der grünen Spitzenkandidatin Ska Keller hat heute Abend durchaus symbolische Bedeutung: Nach Schließung der Wahllokale in Deutschland gehen die Grünen nach ersten Hochrechnungen als zweitstärkste Kraft durchs Ziel und gewinnen nur fünf Sitze weniger als die Union. Dennoch hütet sich Keller vor vorschnellem Jubel, denn die Nacht ist noch lange nicht zu Ende. Wie die Mehrheitsverhältnisse im neuen Europaparlament endgültig aussehen, wird man erst in den Morgenstunden des Montags wissen.
„Diese Wahl ist ein gesamteuropäisches Signal für mehr Klimaschutz“, sagt Keller. „Das Ergebnis verstehen wir als Auftrag, bei diesem Thema nun endlich für Handlungen zu sorgen. Und dementsprechend werden wir bei der Wahl einer Kommissionspräsidentin oder eines Kommissionspräsidenten ein entscheidendes Wort mitzureden haben.“Und ihr Kollege Philippe Lamberts verspricht, seine Fraktion werde die europäische Politik sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger machen. Als Mehrheitsbeschaffer ohne entsprechende Garantien stehe sie nicht zur Verfügung. Manfred Weber hat in seinem Wahlkampf immer betont, dass er inhaltlich auf die Grünen zugehen will, wenn das Wahlergebnis entsprechend ausfällt.
Doch noch ist es viel zu früh, um über mögliche Mehrheitsbeschaffer für einen konservativen Kommissionspräsidenten zu spekulieren. Zwar haben die Liberalen in Deutschland äußerst schwach abgeschnitten. Doch auf europäischer Ebene bekamen sie kurz vor der Wahl einflussreichen Zuwachs: Aus ALDE wurde ALDE plus Renaissance – der französische Präsident Emmanuel Macron scheint sich also nach einer langen Phase der Unentschlossenheit den europäischen Liberalen anschließen zu wollen.
Durchaus nachvollziehbar also, dass auch eine strahlende Margrete Vestager an diesem Abend häufig auf der großen Leinwand zu sehen ist, wie sie in einem dänischen Wahllokal ihre Stimme abgibt. Die Politikerin hat zwar betont, sich nicht in der Rolle der liberalen Spitzenkandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin zu sehen. Die Tatsache, dass sie am Abend im EU-Parlament bei den Journalisten auftaucht, gibt den Gerüchten neue Nahrung – die Vestager schließlich bestätigt. „Es wäre merkwürdig, in Debatten mit Kandidaten teilzunehmen, die diesen Anspruch haben, wenn ich nicht sagen würde, dass ich dieselben Ambitionen habe – also ja“, sagt Vestager der Deutschen Presse-Agentur auf die Frage, ob sie nun ihren Hut für das Amt offen in den Ring werfe.