Aalener Nachrichten

Großes Interesse am Schicksal Europas

1400 Journalist­en aus aller Welt berichten am Wahltag aus dem Plenarsaal des EU-Parlaments in Brüssel

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Als ausgestorb­ene Betonwüste präsentier­t sich das Europavier­tel an diesem Wahlsonnta­g – wie an jedem anderen Wochenende. Viele Mitarbeite­r des Brüsseler Betriebs sind nach Hause geflogen, um ihre Stimme abzugeben. Wäre da nicht die lange Schlange Wahlwillig­er vor dem spanischen Konsulatsg­ebäude, könnte man fast vergessen, dass sich heute Europas Schicksal entscheide­n soll.

Im Innern des Parlaments­gebäudes allerdings geben sich die Organisato­ren alle Mühe, den Anlass mit größtmögli­cher Dramatik in Szene zu setzen. Im Plenarsaal, wo sonst die 751 Abgeordnet­en Gesetze beschließe­n, sind Arbeitsplä­tze für die Journalist­en vorbereite­t. Ein Sprecher verkündet stolz, dass hier und in Straßburg in der abgelaufen­en Legislatur 700 neue Gesetze beschlosse­n worden seien.

1400 Medienvert­reter aus aller Welt hätten sich zur Berichters­tattung angemeldet. Technisch vorbereite­t ist die Parlaments­verwaltung darauf nicht. Obwohl sämtliche Informatio­nen nur übers Internet zur Verfügung gestellt werden, ist das Netz so schwach, dass die Verbindung ständig zusammenbr­icht. Darüber können auch zu dramatisch­er Musik über die Bildschirm­e tanzende gelbe Sterne nicht hinwegtrös­ten.

Auf riesigen Bildschirm­en, wo später am Abend Hochrechnu­ngen zu sehen sind, werden Schnappsch­üsse und kleine Videos aus den Wahllokale­n projiziert: Ein Este sitzt – in ein Badetuch gewickelt – mitten in der Wildnis vor seiner Sauna, steckt seine Wahlkarte ins Laptop und gibt seine Stimme ab. Manfred Weber, Spitzenkan­didat der Konservati­ven für das Amt des Kommission­spräsident­en, nähert sich in Endlosschl­eife seiner niederbaye­rischen Wahlkabine, über der ein großes Holzkreuz prangt. In der englischen Provinz steht ein breit grinsender Nigel Farage vor dem Wahllokal. Er weiß schon jetzt, dass er die europäisch­e Politik gehörig aufmischen wird.

Mehrheiten noch nicht klar

Um Viertel nach sechs ist dann klar: Das Drachentat­too auf dem linken Oberarm der grünen Spitzenkan­didatin Ska Keller hat heute Abend durchaus symbolisch­e Bedeutung: Nach Schließung der Wahllokale in Deutschlan­d gehen die Grünen nach ersten Hochrechnu­ngen als zweitstärk­ste Kraft durchs Ziel und gewinnen nur fünf Sitze weniger als die Union. Dennoch hütet sich Keller vor vorschnell­em Jubel, denn die Nacht ist noch lange nicht zu Ende. Wie die Mehrheitsv­erhältniss­e im neuen Europaparl­ament endgültig aussehen, wird man erst in den Morgenstun­den des Montags wissen.

„Diese Wahl ist ein gesamteuro­päisches Signal für mehr Klimaschut­z“, sagt Keller. „Das Ergebnis verstehen wir als Auftrag, bei diesem Thema nun endlich für Handlungen zu sorgen. Und dementspre­chend werden wir bei der Wahl einer Kommission­spräsident­in oder eines Kommission­spräsident­en ein entscheide­ndes Wort mitzureden haben.“Und ihr Kollege Philippe Lamberts verspricht, seine Fraktion werde die europäisch­e Politik sozial gerechter und ökologisch nachhaltig­er machen. Als Mehrheitsb­eschaffer ohne entspreche­nde Garantien stehe sie nicht zur Verfügung. Manfred Weber hat in seinem Wahlkampf immer betont, dass er inhaltlich auf die Grünen zugehen will, wenn das Wahlergebn­is entspreche­nd ausfällt.

Doch noch ist es viel zu früh, um über mögliche Mehrheitsb­eschaffer für einen konservati­ven Kommission­spräsident­en zu spekuliere­n. Zwar haben die Liberalen in Deutschlan­d äußerst schwach abgeschnit­ten. Doch auf europäisch­er Ebene bekamen sie kurz vor der Wahl einflussre­ichen Zuwachs: Aus ALDE wurde ALDE plus Renaissanc­e – der französisc­he Präsident Emmanuel Macron scheint sich also nach einer langen Phase der Unentschlo­ssenheit den europäisch­en Liberalen anschließe­n zu wollen.

Durchaus nachvollzi­ehbar also, dass auch eine strahlende Margrete Vestager an diesem Abend häufig auf der großen Leinwand zu sehen ist, wie sie in einem dänischen Wahllokal ihre Stimme abgibt. Die Politikeri­n hat zwar betont, sich nicht in der Rolle der liberalen Spitzenkan­didatin für das Amt der Kommission­spräsident­in zu sehen. Die Tatsache, dass sie am Abend im EU-Parlament bei den Journalist­en auftaucht, gibt den Gerüchten neue Nahrung – die Vestager schließlic­h bestätigt. „Es wäre merkwürdig, in Debatten mit Kandidaten teilzunehm­en, die diesen Anspruch haben, wenn ich nicht sagen würde, dass ich dieselben Ambitionen habe – also ja“, sagt Vestager der Deutschen Presse-Agentur auf die Frage, ob sie nun ihren Hut für das Amt offen in den Ring werfe.

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FOTO: DPA In Brüssel verfolgten viele Menschen vor dem Europäisch­en Parlament auf einer Leinwand Hochrechnu­ngen der Wahlergebn­isse.

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