Eltern sollten Noten nicht überbewerten
Schulpsychologe Hendrik Heisch über den richtigen Umgang mit schlechten schulischen Leistungen
RAVENSBURG (sz) - Der Tag der Zeugnisausgabe am Ende des Schuljahres ist für Schüler wie für Eltern oft der Tag der Wahrheit. Schulpsychologe Hendrik Heisch aus Ravensburg warnt aber davor, Noten überzubewerten. Im Interview erklärt er, was schlechte Noten für Schüler bedeuten, wie sich weitere Interessensgebiete positiv auf das Selbstwertgefühl der Kinder auswirken können und warum häufig die Erwartungshaltung der Eltern das größere Problem ist.
RAVENSBURG - Der Tag der Zeugnisausgabe am Ende des Schuljahres ist der Tag der Wahrheit. Mancher Schüler kann gänzlich unbeschwert in die Sommerferien starten, für andere sind schlechte Noten ein schwerer Ballast. Diplom-Psychologe Hendrik Heisch berät Schüler und Eltern in der Schulpsychologischen Beratungsstelle in Ravensburg und Markdorf. Im Interview spricht er mit Miriam Heidecker darüber, wie Schüler mit schlechten Noten umgehen, wie sich ein zweites Standbein auf das Selbstwertgefühl der Kinder auswirkt und warum meistens die Erwartungshaltung der Eltern das größere Problem ist.
Was machen schlechte Zeugnisnoten mit den Schülern?
Die Noten fallen ja nicht vom Himmel. Es werden das Schuljahr über Arbeiten geschrieben und es gibt Rückmeldungen. Die meisten Kinder und Eltern wissen, welche Noten letztlich im Zeugnis stehen. Die Noten am Schuljahresende sollten deshalb keine Überraschung sein.
Wie gehen Schüler mit schlechten Noten um?
Manche gehen damit relativ entspannt um, weil sie ein stabiles Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl haben, oder aber weil zum Beispiel in der Pubertät anderes wichtiger erscheint. Für die Mehrheit der Schüler aber haben Noten eine große Bedeutung. Schlechte Noten wirken sich sehr wohl auf ihr Selbstwertgefühl aus.
Was genau macht den Schülern denn zu schaffen? Fühlen sie sich ungerecht behandelt oder fühlen sie sich wegen der schlechten Bewertung als Schüler zweiter Klasse?
All dies trifft zu. Das muss man differenziert betrachten. Es gibt nicht den einen Schüler. Es gibt zum Beispiel sehr ehrgeizige Schüler, die ihren Selbstwert und ihr Ansehen ganz maßgeblich an die Noten koppeln. Für so jemanden ist es gravierend, wenn das Bild, das er nach außen zeigen will, durch die Noten nicht dargestellt wird.
Geht die heutige Schülergeneration anders mit schlechten Noten um?
Unsere Gesellschaft ist vom Leistungsgedanken geprägt: höher, schneller, weiter. Man möchte zu den Gewinnern gehören. Inzwischen machen 50 Prozent der Kinder Abitur, zu denen möchte man natürlich auch gehören. Was Noten mit einem Kind machen, hängt auch davon ab, in welchem Rahmen das Kind groß wird und welche Bedeutung den Noten und der Schule zugeschrieben wird.
Inwiefern spielen da auch die Erwartungen der Eltern an den Nachwuchs eine Rolle?
Es gibt Eltern, die ihr Kind unbedingt auf das Gymnasium schicken, obwohl es auf der Hauptschule besser aufgehoben wäre. Sie haben eine extrem hohe Erwartungshaltung, dann kommen die ersten Arbeiten und das Kind bringt schlechte Noten nach Hause. Die Kinder leiden darunter, die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen zu können. Das geht auch dem Lehrer nahe.
Die Notengebung belastet also auch die Lehrer?
Der Lehrer weiß um die Situation seiner Schüler, welchem Druck sie ausgesetzt sind. Er sieht, wie es dem Kind damit geht. Andererseits kann er die Realität natürlich nicht verbiegen. Letztlich wird die hohe Erwartungshaltung der Eltern auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Das ist hart.
Sind Noten denn überhaupt notwendig?
Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, sich zu vergleichen. Studien sagen, dass Feedback ein ganz großer Faktor für den Lernerfolg ist. Man sollte auf jeden Fall eine Rückmeldung über seine Leistung bekommen.
Welche Art von Feedback würden Sie empfehlen?
Ob die Rückmeldung in Form von Noten oder schriftlich formulierten Beurteilungen geschieht, ist meiner Meinung nach eigentlich egal. Erfahrungsgemäß sind Noten als Bewertung vor allem für die Eltern wichtig, weil sie mit dieser Art von Rückmeldung vertraut sind. Es sollte auf jeden Fall ein qualitatives Feedback sein. Schüler brauchen Erklärungen und Begründungen für ihre Noten, auch um sich verbessern zu können.
Wie sollten Eltern mit einem schlechten Zeugnis umgehen?
Die schulischen Leistungen sollten nicht den Wert eines Menschen grundsätzlich bestimmen. Es gibt ja noch andere Bereiche im Leben. Nehmen Sie Boris Becker.
Was hat Boris Becker mit einem vergeigten Schuljahr zu tun?
Boris Becker konnte als Kind schon besser Tennis spielen als alle anderen. Seine Eltern haben all ihre Zeit und Energie aufgebracht, um ihn dabei zu unterstützen. Sie haben das gefördert, was ihr Kind mitbringt. Aus meiner Sicht haben sie fast alles richtig gemacht.
Erlauben Sie mir den Einwand, dass sicherlich nicht jedes sportlich begabte Kind einmal ein Superstar wird.
Da haben Sie natürlich recht. Trotzdem sollte man die Begabung fördern. Kinder sollten immer zwei Standbeine haben. Sie haben unterschiedliche Begabungen. Der eine ist handwerklich, der andere musisch oder sozial begabt. Schule kann gerade in der Pubertät schwierig werden. Da ist es toll, wenn ein Kind in anderen Bereichen Wertschätzung, Anerkennung und positives Feedback bekommt. Eltern sollten ihr Kind nicht nur über Noten definieren.
Wie bringe ich mein Kind dazu, den Tennisschläger gegen ein Schulbuch einzutauschen?
Hängen schlechte Noten vor allem mit mangelnder Motivation zusammen, würde ich ihm verdeutlichen, dass ich das nicht gut finde, sich so hängen zu lassen. Da geht es aber nicht nur um die Noten. Die Note ist ja nur Symbol dafür, dass er sich nicht bemüht. Da geht es eher darum, das Bemühen zu lernen. Egal was ich später im Leben mache, muss ich mich gegen Frustration durchkämpfen, Durchhaltevermögen haben, da muss ich Dinge machen, die mir keinen Spaß machen.
Was raten Sie Eltern in Ihrer Beratungsstelle?
Der erste Schritt ist immer der Weg zum Beratungslehrer an der Schule vor Ort. Die schwierigeren Fälle kommen dann zu uns. Wir versuchen, die Ursache der Probleme zu erkennen und zeigen Lösungen auf. Zusätzlich versuchen wir, den Fokus auf das zweite Standbein zu legen. Dinge auch mal zu relativieren. Wenn das Schuljahr nicht so optimal lief, das Kind sich aber weiterhin im Verein engagiert, ist das trotzdem positiv. Es zeigt die Fähigkeit, an etwas dranzubleiben. Dass es in einem Fach nicht so klappt, kann auch am Unterricht oder am Lehrer liegen.
Und wenn es eher an einer generellen Überforderung liegt?
Da muss man ehrlich zu sich sein und überlegen, ob es andere Möglichkeiten gibt. In Baden-Württemberg führen viele Wege zu einem Abschluss. So gibt es zum Beispiel im beruflichen Schulsystem überall An- und Abschlüsse. Schullaufbahnberatungen gehören auch zu unseren Aufgaben. Theoretisch muss kein Kind die Schule ohne Abschluss verlassen. Wenn jemand etwas möchte, kann er das auch schaffen.