Wie der Himmel den „Engel der Lüfte“verlor
Europas erste Stewardess ist vor 85 Jahren über Tuttlingen abgestürzt – Ihre Geschichte lebt bis heute weiter
Es ist ein lauter Knall, der das junge Leben von Nelly Diener beendet. Am Himmel über Tuttlingen findet die 22-Jährige zusammen mit elf weiteren Insassen eines Passagierflugzeuges den Tod. Ein Unglück, das sich an diesem Samstag zum 85. Mal jährt. Doch die Geschichte der ersten europäischen Stewardess dauert bis heute an.
An einem Freitagmorgen sind Frauen und Kinder im Wald auf dem Rußberg bei Tuttlingen unterwegs. Sie sind auf der Suche nach Himbeeren, die sie auf dem Markt verkaufen wollen. Gebückt stehen sie über den Sträuchern, über ihnen brummt es am Himmel – wie jeden Tag fliegt die Schweizer Verkehrsmaschine der Swissair von Zürich nach Berlin und überquert dabei Tuttlingen. Doch kurz nachdem die Maschine in eine Wolke geflogen ist, verstummt das Geräusch. Dann schreckt die Frauen ein lauter Knall auf. Flammen schießen aus dem schwarzen Punkt am Himmel, der kurz darauf wie ein Stein in Richtung Boden fällt. Trümmerteile regnen über das Waldstück. Teile der Flügel, eine Motorhaube, Koffer der Passagiere. Aufgeschreckt laufen die Frauen mit ihren Kindern umher, den Blick immer in den Himmel gerichtet, aus Angst getroffen zu werden. Ein Bauer aus der Umgebung sitzt gerade auf seinem Fuhrwerk, als ihn ein Trümmerteil trifft und seinen Knöchel zerschmettert. Die Flugzeugkabine der Curtiss Condor zerschellt am Waldboden und fängt Feuer. Die zwölf Insassen, darunter ein anderthalb Jahre alter Junge, sind sofort tot.
Der Absturz der SwissAir-Maschine am 27. Juli 1934 geht als tragischer Unfall in die Geschichte ein – und als der Tag, an dem die erste Stewardess Europas auf ihrem 83. Flug abstürzte.
Drei Monate zuvor: Die 22-Jährige Nelly Diener heuert bei der Schweizer Fluggesellschaft Swissair an. Sie soll den gut betuchten Fluggästen in der Luft belegte Brote sowie Kaffee und Tee aus Thermoskannen servieren. Einen Service, den die Fluggesellschaft aus Amerika übernimmt. Dort ist man der Ansicht, dass weibliche
Flugbegleiter eine beruhigende Wirkung auf die Passagiere haben, die in einer Zeit fliegen, in der ungeplante Landungen keine Seltenheit sind. Diener spricht mit den Gästen, spielt auch mal Karten oder serviert Whisky. Für die Presse ist das eine Sensation. Bei einem eigens anberaumten Pressetermin stellt die Fluggesellschaft ihre Stewardess vor. „Da erschien uns ein sehr schönes, blondes Mädchen in hellblauem Dress der Swissair, die weiße Mütze keck über das rechte Ohr gezogen“, schreibt damals ein Reporter für den Tuttlinger „Gränzboten“. Von der Fachzeitschrift „Aero Revue“erhält die junge Frau gar den Titel: „Engel der Lüfte“.
Innovative Schweizerin
Was für ein Mensch Nelly Diener wirklich war, ist heute schwer zu rekonstruieren. Die Quellen sind rar, Augenzeugen nicht mehr am Leben. Eine, die sich intensiv mit ihrer Biografie beschäftigt hat, ist die Schweizer Autorin Pascale Marder. Sie hat 2018 einen Roman über das kurze Leben der ersten europäischen Stewardess verfasst. Titel: „Nelly Diener: Engel der Lüfte“. Während ihres Studiums jobbt Marder bei der Swissair – und stößt dort immer wieder auf Nelly Diener und deren Verehrung. Dass die erste Stewardess Europas gerade aus der Schweiz stammt, fasziniert sie. „Wir sind nicht gerade dafür bekannt, ein besonders innovativer Ort zu sein“, sagt Marder über die Schweiz. Als sie versucht tiefergehend zu recherchieren, stellte sie schnell fest: Die Informationen über Nelly Diener sind lückenhaft. Deshalb macht sie einen Sohn von Armin Mühlematter, dem Piloten des Todesfluges, ausfindig und kontaktiert unter anderem einen Neffen der Stewardess.
„Welche Persönlichkeit Nelly Diener hatte, kann niemand mehr sagen“, erklärt Marder. Doch die Indizien, die die Autorin sammelt, ergeben zumindest ein grobes Bild: Für die Autorin war Diener eine Aufsteigerin, die es als Tochter eines Metzgers und eines Hausmädchens in der kleinen Schweizer Gemeinde Muri schaffte, aus dem Arbeitermillieu auszubrechen. „Um so etwas zu schaffen, braucht es ein gewisses Maß an Zielstrebigkeit“, sagt Marder.
So spart sich Diener nach der Schulzeit einen Sprachaufenthalt in der französischsprachigen Schweiz zusammen, später folgt ein Jahr als Au-Pair-Mädchen in Liverpool. Erfahrungen, die ihr wohl später die Anstellung bei der Swissair sichern. Schon während ihrer Arbeit als Stewardess plant sie einen weiteren Auslandsaufenthalt. „Die Piloten gingen nach St. Moritz in Urlaub. Und Nelly Diener wollte Sprachkurse machen“, sagt Marder. Dabei habe sie zu der Zeit durch Trinkgelder mehr verdient als eine Lehrerin.
Dass Nelly Diener schon zu Lebzeiten wie ein Popstar gefeiert wurde, hält Benedikt Meyer für fraglich. Der Historiker hat zur Schweizer Luftfahrtgeschichte der Zwischenkriegszeit promoviert und sagt: „Nelly Diener wurde erst nach ihrem Tod zu einer Legende gemacht.“Denn: Ein Flug etwa von Zürich nach London ist in den 1930ern nur für wenige Menschen erschwinglich. Ein Preis der heute rund 2400 Schweizer Franken entsprechen würde. „Die wenigsten können sich damals vorstellen, dass sie sich das irgendwann mal leisten können“, so Meyer. An einer großen gesellschaftlichen Bedeutung der Einführung einer Stewardess hat Meyer Zweifel.
Flugreisen sind in der Zeit eher ein Nischenphänomen. Die Gesellschaften fliegen in der Regel nicht profitabel und erhalten üppige Staatssubventionen. So besteht etwa der Etat der Air France zeitweise zu rund 60 Prozent aus staatlichen Geldern. Mit der deutschen Lufthansa verhält es sich ähnlich. Denn das Reisen mit dem Flugzeug hat neben den hohen Preisen entscheidende Nachteile: „Verspätungen waren häufig. Ob wirklich gestartet werden konnte, erfuhren die Passagiere erst am Flughafen“, erklärt Meyer. „Und selbst wenn die Maschinen abhoben, taten sie das nicht besonders schnell.“Anfangs können die Flugzeuge etwa mit der Geschwindigkeit von Zügen nur schwer mithalten. Erst die amerikanischen Schnellflugzeuge in den 1930er-Jahren erreichen Geschwindigkeiten von 260 Kilometern pro Stunde. So entsteht etwa in England der Spruch: „If you have time to spare, go by air!“(Wenn du Zeit übrig hast, dann nimm das Flugzeug). Auch der Komfort lässt zu wünschen übrig. Die Passagiere werden auf der Reise ziemlich durchgeschüttelt, die Flugzeugmotoren machen einen Heidenlärm. Eine Situation, die sich erst im Laufe der 1930erJahre verbesserte.
Zwölf Opfer des Absturzes
Die Swissair muss sich deutlich früher um einen besseren Komfort kümmern als andere europäische Gesellschaften – sie erhält weniger staatliche Unterstützung. Weil die Swissair keine Rücksicht auf nationale Flugzeugbauer nehmen muss, kann sie schon früh auf amerikanische Modelle zurückgreifen – wie die Curtiss Condor. Ein Doppeldecker-Flugzeug, zwei Propellermotoren und Platz für zwölf bis 24 Passagiere. Es fliegt rund 100 Stundenkilometer schneller als die in Europa üblichen Modelle, die Kabine ist erstmals schallisoliert. Und: Eine Stewardess kümmert sich um das Wohl der Passagiere.
Doch trotz des technischen Fortschritts stürzt die Maschine 1934 über Tuttlingen ab. Als Ursache stellen die Behörden später fest: Durch Materialermüdung bricht der rechte Flügel ab, die Maschine stürzt unkontrolliert in die Tiefe. Neun Passagiere und drei Besatzungsmitglieder finden den Tod. Der letzte Eintrag im Meldebuch des Piloten: „Zürich 9.25, 1500 Meter Höhe, Wetter klar, wolkenlos“. Am Sonntag nach dem Absturz ziehen viele Tuttlinger nach der Messe zum Friedhof. Dort findet eine Trauerfeier für die Opfer des Absturzes statt.
Die Swissair fliegt nach dem Absturz weiter. Erst vor rund 18 Jahren geht die Geschichte der Airline zu Ende, 2001 stellte sie wegen finanzieller Probleme den Betrieb ein. Noch immer ist das sogenannte Grounding der Gesellschaft ein tiefer Stachel im Nationalstolz vieler Schweizer. Das spürt auch Pascale Marder im Anschluss an ihre Lesungen, wenn die Gäste in Erinnerungen an die alte Swissair schwelgen. Heute gehört die Airline als Swiss zur Lufthansa – ausgerechnet einem deutschen Unternehmen. „Die Swiss ist wahnsinnig bemüht, schweizerisch zu sein“, sagt Meyer. Es geht um Identität und aviatischen Nationalstolz. Einer Umfrage im Auftrag der „Schweiz am Sonntag“aus dem Jahr 2016 zufolge wünscht sich fast jeder zweite Befragte, dass die Swiss wieder in Swissair umbenannt wird. Deswegen, so Benedikt Meyer, sind Geschichten wie die der ersten und deshalb umjubelten Schweizer Stuardess wichtig. Bis heute.
Im Mai teilte das Unternehmen mit, dass es im Kundenservice nun Chatbots einsetzen werde – Computerprogramme, die Kundenfragen beantworten können. Der Name des Swiss-Bots: Nelly. So steht die erste Flugbegleiterin Europas weiterhin im Dienst der Fluggäste – wenn auch nur digital.