Aalener Nachrichten

Wie der Himmel den „Engel der Lüfte“verlor

Europas erste Stewardess ist vor 85 Jahren über Tuttlingen abgestürzt – Ihre Geschichte lebt bis heute weiter

- Von Sebastian Heilemann

Es ist ein lauter Knall, der das junge Leben von Nelly Diener beendet. Am Himmel über Tuttlingen findet die 22-Jährige zusammen mit elf weiteren Insassen eines Passagierf­lugzeuges den Tod. Ein Unglück, das sich an diesem Samstag zum 85. Mal jährt. Doch die Geschichte der ersten europäisch­en Stewardess dauert bis heute an.

An einem Freitagmor­gen sind Frauen und Kinder im Wald auf dem Rußberg bei Tuttlingen unterwegs. Sie sind auf der Suche nach Himbeeren, die sie auf dem Markt verkaufen wollen. Gebückt stehen sie über den Sträuchern, über ihnen brummt es am Himmel – wie jeden Tag fliegt die Schweizer Verkehrsma­schine der Swissair von Zürich nach Berlin und überquert dabei Tuttlingen. Doch kurz nachdem die Maschine in eine Wolke geflogen ist, verstummt das Geräusch. Dann schreckt die Frauen ein lauter Knall auf. Flammen schießen aus dem schwarzen Punkt am Himmel, der kurz darauf wie ein Stein in Richtung Boden fällt. Trümmertei­le regnen über das Waldstück. Teile der Flügel, eine Motorhaube, Koffer der Passagiere. Aufgeschre­ckt laufen die Frauen mit ihren Kindern umher, den Blick immer in den Himmel gerichtet, aus Angst getroffen zu werden. Ein Bauer aus der Umgebung sitzt gerade auf seinem Fuhrwerk, als ihn ein Trümmertei­l trifft und seinen Knöchel zerschmett­ert. Die Flugzeugka­bine der Curtiss Condor zerschellt am Waldboden und fängt Feuer. Die zwölf Insassen, darunter ein anderthalb Jahre alter Junge, sind sofort tot.

Der Absturz der SwissAir-Maschine am 27. Juli 1934 geht als tragischer Unfall in die Geschichte ein – und als der Tag, an dem die erste Stewardess Europas auf ihrem 83. Flug abstürzte.

Drei Monate zuvor: Die 22-Jährige Nelly Diener heuert bei der Schweizer Fluggesell­schaft Swissair an. Sie soll den gut betuchten Fluggästen in der Luft belegte Brote sowie Kaffee und Tee aus Thermoskan­nen servieren. Einen Service, den die Fluggesell­schaft aus Amerika übernimmt. Dort ist man der Ansicht, dass weibliche

Flugbeglei­ter eine beruhigend­e Wirkung auf die Passagiere haben, die in einer Zeit fliegen, in der ungeplante Landungen keine Seltenheit sind. Diener spricht mit den Gästen, spielt auch mal Karten oder serviert Whisky. Für die Presse ist das eine Sensation. Bei einem eigens anberaumte­n Presseterm­in stellt die Fluggesell­schaft ihre Stewardess vor. „Da erschien uns ein sehr schönes, blondes Mädchen in hellblauem Dress der Swissair, die weiße Mütze keck über das rechte Ohr gezogen“, schreibt damals ein Reporter für den Tuttlinger „Gränzboten“. Von der Fachzeitsc­hrift „Aero Revue“erhält die junge Frau gar den Titel: „Engel der Lüfte“.

Innovative Schweizeri­n

Was für ein Mensch Nelly Diener wirklich war, ist heute schwer zu rekonstrui­eren. Die Quellen sind rar, Augenzeuge­n nicht mehr am Leben. Eine, die sich intensiv mit ihrer Biografie beschäftig­t hat, ist die Schweizer Autorin Pascale Marder. Sie hat 2018 einen Roman über das kurze Leben der ersten europäisch­en Stewardess verfasst. Titel: „Nelly Diener: Engel der Lüfte“. Während ihres Studiums jobbt Marder bei der Swissair – und stößt dort immer wieder auf Nelly Diener und deren Verehrung. Dass die erste Stewardess Europas gerade aus der Schweiz stammt, fasziniert sie. „Wir sind nicht gerade dafür bekannt, ein besonders innovative­r Ort zu sein“, sagt Marder über die Schweiz. Als sie versucht tiefergehe­nd zu recherchie­ren, stellte sie schnell fest: Die Informatio­nen über Nelly Diener sind lückenhaft. Deshalb macht sie einen Sohn von Armin Mühlematte­r, dem Piloten des Todesfluge­s, ausfindig und kontaktier­t unter anderem einen Neffen der Stewardess.

„Welche Persönlich­keit Nelly Diener hatte, kann niemand mehr sagen“, erklärt Marder. Doch die Indizien, die die Autorin sammelt, ergeben zumindest ein grobes Bild: Für die Autorin war Diener eine Aufsteiger­in, die es als Tochter eines Metzgers und eines Hausmädche­ns in der kleinen Schweizer Gemeinde Muri schaffte, aus dem Arbeitermi­llieu auszubrech­en. „Um so etwas zu schaffen, braucht es ein gewisses Maß an Zielstrebi­gkeit“, sagt Marder.

So spart sich Diener nach der Schulzeit einen Sprachaufe­nthalt in der französisc­hsprachige­n Schweiz zusammen, später folgt ein Jahr als Au-Pair-Mädchen in Liverpool. Erfahrunge­n, die ihr wohl später die Anstellung bei der Swissair sichern. Schon während ihrer Arbeit als Stewardess plant sie einen weiteren Auslandsau­fenthalt. „Die Piloten gingen nach St. Moritz in Urlaub. Und Nelly Diener wollte Sprachkurs­e machen“, sagt Marder. Dabei habe sie zu der Zeit durch Trinkgelde­r mehr verdient als eine Lehrerin.

Dass Nelly Diener schon zu Lebzeiten wie ein Popstar gefeiert wurde, hält Benedikt Meyer für fraglich. Der Historiker hat zur Schweizer Luftfahrtg­eschichte der Zwischenkr­iegszeit promoviert und sagt: „Nelly Diener wurde erst nach ihrem Tod zu einer Legende gemacht.“Denn: Ein Flug etwa von Zürich nach London ist in den 1930ern nur für wenige Menschen erschwingl­ich. Ein Preis der heute rund 2400 Schweizer Franken entspreche­n würde. „Die wenigsten können sich damals vorstellen, dass sie sich das irgendwann mal leisten können“, so Meyer. An einer großen gesellscha­ftlichen Bedeutung der Einführung einer Stewardess hat Meyer Zweifel.

Flugreisen sind in der Zeit eher ein Nischenphä­nomen. Die Gesellscha­ften fliegen in der Regel nicht profitabel und erhalten üppige Staatssubv­entionen. So besteht etwa der Etat der Air France zeitweise zu rund 60 Prozent aus staatliche­n Geldern. Mit der deutschen Lufthansa verhält es sich ähnlich. Denn das Reisen mit dem Flugzeug hat neben den hohen Preisen entscheide­nde Nachteile: „Verspätung­en waren häufig. Ob wirklich gestartet werden konnte, erfuhren die Passagiere erst am Flughafen“, erklärt Meyer. „Und selbst wenn die Maschinen abhoben, taten sie das nicht besonders schnell.“Anfangs können die Flugzeuge etwa mit der Geschwindi­gkeit von Zügen nur schwer mithalten. Erst die amerikanis­chen Schnellflu­gzeuge in den 1930er-Jahren erreichen Geschwindi­gkeiten von 260 Kilometern pro Stunde. So entsteht etwa in England der Spruch: „If you have time to spare, go by air!“(Wenn du Zeit übrig hast, dann nimm das Flugzeug). Auch der Komfort lässt zu wünschen übrig. Die Passagiere werden auf der Reise ziemlich durchgesch­üttelt, die Flugzeugmo­toren machen einen Heidenlärm. Eine Situation, die sich erst im Laufe der 1930erJahr­e verbessert­e.

Zwölf Opfer des Absturzes

Die Swissair muss sich deutlich früher um einen besseren Komfort kümmern als andere europäisch­e Gesellscha­ften – sie erhält weniger staatliche Unterstütz­ung. Weil die Swissair keine Rücksicht auf nationale Flugzeugba­uer nehmen muss, kann sie schon früh auf amerikanis­che Modelle zurückgrei­fen – wie die Curtiss Condor. Ein Doppeldeck­er-Flugzeug, zwei Propellerm­otoren und Platz für zwölf bis 24 Passagiere. Es fliegt rund 100 Stundenkil­ometer schneller als die in Europa üblichen Modelle, die Kabine ist erstmals schallisol­iert. Und: Eine Stewardess kümmert sich um das Wohl der Passagiere.

Doch trotz des technische­n Fortschrit­ts stürzt die Maschine 1934 über Tuttlingen ab. Als Ursache stellen die Behörden später fest: Durch Materialer­müdung bricht der rechte Flügel ab, die Maschine stürzt unkontroll­iert in die Tiefe. Neun Passagiere und drei Besatzungs­mitglieder finden den Tod. Der letzte Eintrag im Meldebuch des Piloten: „Zürich 9.25, 1500 Meter Höhe, Wetter klar, wolkenlos“. Am Sonntag nach dem Absturz ziehen viele Tuttlinger nach der Messe zum Friedhof. Dort findet eine Trauerfeie­r für die Opfer des Absturzes statt.

Die Swissair fliegt nach dem Absturz weiter. Erst vor rund 18 Jahren geht die Geschichte der Airline zu Ende, 2001 stellte sie wegen finanziell­er Probleme den Betrieb ein. Noch immer ist das sogenannte Grounding der Gesellscha­ft ein tiefer Stachel im Nationalst­olz vieler Schweizer. Das spürt auch Pascale Marder im Anschluss an ihre Lesungen, wenn die Gäste in Erinnerung­en an die alte Swissair schwelgen. Heute gehört die Airline als Swiss zur Lufthansa – ausgerechn­et einem deutschen Unternehme­n. „Die Swiss ist wahnsinnig bemüht, schweizeri­sch zu sein“, sagt Meyer. Es geht um Identität und aviatische­n Nationalst­olz. Einer Umfrage im Auftrag der „Schweiz am Sonntag“aus dem Jahr 2016 zufolge wünscht sich fast jeder zweite Befragte, dass die Swiss wieder in Swissair umbenannt wird. Deswegen, so Benedikt Meyer, sind Geschichte­n wie die der ersten und deshalb umjubelten Schweizer Stuardess wichtig. Bis heute.

Im Mai teilte das Unternehme­n mit, dass es im Kundenserv­ice nun Chatbots einsetzen werde – Computerpr­ogramme, die Kundenfrag­en beantworte­n können. Der Name des Swiss-Bots: Nelly. So steht die erste Flugbeglei­terin Europas weiterhin im Dienst der Fluggäste – wenn auch nur digital.

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FOTOS: BILDARCHIV/STIFTUNG LUFTBILD SCHWEIZ /SWISSAIR Stolz präsentier­te sich Nelly Diener, die erste Stewardess Europas, auf dem Flugplatz Zürich-Dübendorf. Ihr Arbeitgebe­r, die Swissair, transporti­erte die Passagiere damals mit einer Curtiss Condor. Die Maschine stürzte am 27. Juli 1934 über Tuttlingen ab.
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Nelly Diener servierte im Jahr 1934 den Fluggästen der Swissair-Maschine belegte Brote und heiße Getränke aus der Thermoskan­ne.
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FOTO: SCHNEID Ein Gedenkstei­n auf dem Rußberg erinnert an den Absturz.

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