Auf Johnson ist kein Verlass
Bei aller Erleichterung über die Einigung von Brüssel sollten die Beteiligten nicht vergessen: Boris Johnson bleibt ein Mann, auf dessen Wort kein Verlass ist. Dem britischen Premierminister ist weiterhin zuzutrauen, dass er sein Land und die anliegenden Volkswirtschaften in den Chaos-Brexit stürzen würde, wenn ihm persönlich dieser sogenannte No Deal nutzt.
Der 55-Jährige hat im Juli sein Amt als Chef einer Minderheitsregierung angetreten. Binnen sechs Wochen hatte er sich so verrannt, dass seine Fraktion im Unterhaus drastisch schrumpfte. Verdiente Minister verließen die Partei. Auf schändliche Weise versuchte Johnson das Parlament von der Brexit-Debatte auszuschließen. Erst der Supreme Court schob diesem Vorgehen mit einem einstimmigen Urteil den Riegel vor.
Johnson änderte seinen Kurs. Oft dringen aus der Downing Street giftige Rhetorikwolken à la Donald Trump. Hingegen machte der Premierminister in der Praxis pragmatische Schritte auf die europäischen Partner zu. Wenn nicht alles täuscht, wird seine Begegnung mit dem irischen Kollegen Leo Varadkar vor Wochenfrist als Schlüsselszene der Brexit-Einigung in die Geschichte eingehen – wenn die Vereinbarung von Brüssel denn Bestand hat.
Dies bleibt fraglich. Im Unterhaus hat sich Johnson keine Freunde gemacht. Dass sein Brexit-Vabanquespiel dennoch erfolgreich sein könnte, hat mit der Schwäche der Opposition zu tun. In der schwersten außenund innenpolitischen Krise der Nachkriegszeit verfolgen Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Nationalisten allesamt nur ihre engen parteipolitischen Interessen. Die Labour-Party leistet sich als Vorsitzenden den zutiefst unpopulären Jeremy Corbyn. Das zynische Spiel der schottischen Nationalisten zielt auf die Unabhängigkeit ab, die beiden Seiten in Nordirland werden von mediokren Figuren geleitet.
Wer solche Gegner hat, verfügt über Fortune. Aber Vorsicht, Europa! Die Briten bleiben für Überraschungen gut. Und Boris Johnson sollte man keinen Zentimeter über den Weg trauen.