WhatsApp-Gefahren für Kinder nehmen zu
Was Eltern über dieses Medium oft nicht wissen, aber unbedingt wissen sollten
RAVENSBURG - Bis zu vier Stunden täglich verbringen 12- bis 19-Jährige online – beliebteste Apps sind dabei WhatsApp und Instagram. Ständig klingelt das Handy, es werden Fotos, Videos und Likes ausgetauscht. Das Problem: Viele Eltern wissen nicht, was sich auf den Bildschirmen in den Händen ihrer Kinder abspielt – und zu welchen Zeiten. Die Folgen für die Heranwachsenden sind umstritten.
Prof. Manfred Spitzer beschäftigt sich intensiv mit der Thematik und warnt vor „sozialen Medien“. Spitzer ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III am Universitätsklinikum in Ulm. Er sagt: „Junge Menschen brauchen Zeit, um eigene Gedanken und Ziele zu formulieren und umzusetzen. Wenn sie dauernd dabei gestört werden, wird die Entwicklung dieser wichtigen Fähigkeit gestört und es folgen Aufmerksamkeitsstörungen und Lebensunzufriedenheit.“
Durch den Medienkonsum gehen wichtige soziale Kontakte verloren, sagt er. Das würden auch wissenschaftliche Untersuchungen an Jugendlichen zeigen, „deren Mitgefühl für Eltern und Freunde mit jeder Stunde mehr Bildschirmmedienkonsum abnimmt“. Von Bildschirmen könne man Empathie nicht lernen, „denn hierzu benötigt man reale Kontakte und nicht vermittelte“, sagt Spitzer.
Das Thema verunsichert Eltern sehr, bestätigt Gottfried Maria Barth. Er ist stellvertretender Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Tübingen. Pornografie, Gewalt und Hass, sagt er, seien durch das Internet heute nahezu mühelos verfügbar. Während Eltern früher ganz genau aufpassen konnten, was ihre Kinder konsumieren, sei das heute nicht mehr möglich. „Das Ganze sorgt für viel Streit in den Familien“, sagt Barth. Manfred Spitzer äußert sich in diesem Punkt sehr deutlich: „Smartphones und soziale Medien erzeugen Sucht und schaden der Gehirnentwicklung nachweislich.“
Die Frage, ab wann ein Kind ein Smartphone haben sollte, beantwortet Spitzer so: „Das Smartphone ist der ungehinderte Zugang zum größten Rotlichtbezirk der Welt und zum größten Tummelplatz vielfacher krimineller Aktivitäten. Meine Gegenfrage lautet daher: Ab welchem Alter würden Sie Ihre Tochter auf die Reeperbahn in genau das Lokal unbegleitet schicken, in dem sich die Mafia immer trifft?“Mediziner Gottfried Barth warnt hingegen davor, Dinge zu verteufeln, die mit Internet oder Smartphone zu tun haben – nicht jeder Konsument werde zum Süchtigen oder Aggressiven. „Dafür fehlen die Studien.“Wie sich ein Kind mit oder ohne Smartphone entwickle, sei ganz unterschiedlich und nur wenig plakativ, so Barth. Einfache Antworten auf komplexe Fragen gebe es nur selten.
Auch habe er seine Meinung seit Beginn seiner Arbeit dazu geändert. „Wir mussten uns der Realität anpassen“, sagt er. Er ist davon überzeugt, dass Kinder, die keine Auffälligkeiten zeigen, auch keine Probleme haben werden, selbst wenn sie viel Zeit an ihrem Smartphone verbringen. Ist ein Kind allerdings bereits auffällig oder aggressiv, dann könne eine häufige Smartphone-Nutzung zum Problem werden, ist sich Barth sicher. „Bei bedrohten Kindern können auch die Schulleistungen leiden.“Eltern würden erkennen, ob sie ein bedrohtes Kind haben, wenn dieses zum Beispiel zu Gewalt neigt oder zu Depression.
Bei Unsicherheiten sollten Väter und Mütter sich professionelle Unterstützung holen – etwa bei einer Stelle für Erziehungsberatung. Nicht jedes Kind, das viel Zeit mit seinem Handy verbringe, sei automatisch auch süchtig, macht er deutlich. Er sagt, dass Kinder im Kindergarten oder der Grundschule noch kein Smartphone besitzen sollten. Mit dem Wechsel zur weiterführenden Schule oder ab zwölf Jahren führe am Handy oft kein Weg vorbei. „Man muss sich überlegen, wann sind Kinder denn außen vor und von Kommunikation abgeschottet?“, gibt Barth zu bedenken.
Klar sei für ihn aber, dass Eltern die Smartphone-Nutzung mit eindeutigen Regeln und Zeiten konsequent überwachen müssten. Zum Beispiel, dass das Handy nicht in der Nacht oder während des Essens genutzt wird. Diese Regeln, so betont Barth, müssten aber von allen Familienmitgliedern befolgt werden – auch von Müttern und Vätern. „Manchmal sind die Eltern das Problem, die es vorleben“, sagt er. Mit Kindern und Jugendlichen müsse man den Medienkonsum und die Handynutzung üben – und klare Regeln vereinbaren – zum Beispiel, dass das Handy über Nacht abgegeben werden muss.
Barth sieht die Schulen hier in der Pflicht für mehr Medienpädagogik zu sorgen - dafür hält er auch Vorträge vor Lehrern. Zu WhatsApp-Gruppen sagt er: „Eltern müssen klar Stellung beziehen, was sich gehört.“Die jungen Nutzer müssten wissen, dass sie sich vertrauensvoll an ihre Eltern wenden können, wenn sie auf diesen Kanälen zum Beispiel von Mobbing, Pornografie oder Hass erfahren. „Das Ganze ist eine Herausforderung“, sagt Mediziner Barth – für Eltern und Jugendliche. Es komme aber weniger auf die Art der Medien an, sondern auf deren Inhalt. Und wenn man offen mit seinen Kindern darüber spreche, dann könne man auch Offenheit erwarten.
Mediziner Spitzer kann „sozialen Medien“aber keinen positiven Aspekt abgewinnen: „Es mag ja bequem sein, sich ständig auf WhatsApp Nachrichten zu schreiben. Und Helikoptereltern freuen sich, wenn sie jede Sekunde wissen, was ihr Kind macht. Sinnvoll oder gar förderlich für die Entwicklung von Selbstvertrauen und vor allem Selbstständigkeit ist dies nicht.“