Radelnd durch Marrakesch
Vom Sattel aus verändert sich die Sicht auf die quirlige marokkanische Stadt
Sobald es Nacht wird über dem Djemaa el Fna, dem berühmten Platz am Rande der Medina von Marrakesch, kann man ein Stück weit nachvollziehen, wie es hier früher zuging als Karawanen ankamen, Waren getauscht und unter dem Sternenhimmel allerlei angepriesen wurde. Auch heute noch lassen die Gaukler Kobras nach Flötenklängen aus den Körben steigen, führen Äffchen Kunststücke vor, sorgen Musiker mit rhythmischem Getrommel für Stimmung. Es riecht nach Kräutern und frisch Gebratenem. In Dutzenden Garküchen brutzeln Lammkebab, Schafsköpfe, Sardinen oder Gemüse auf den Grills, und riesige Schnecken köcheln in Töpfen vor sich hin. Der Platz, der zu Zeiten der Sultane als Hinrichtungsstätte genutzt wurde, ist ein Muss, wenn es darum geht, einen ersten Eindruck von Marrakesch zu gewinnen.
Im Zeichen des Umweltschutzes
Marrakesch ist in vielerlei Hinsicht eine Stadt der Gegensätze. Sie ist arabisch geprägt und bietet orientalisches Flair, ist gleichzeitig aber auch westliche Touristen gewohnt. Das gilt im Übrigen für das ganze Land. Dank König Mohammed VI. ist der nordafrikanische Staat politisch nach wie vor stabil. Der 55-jährige Herrscher gilt als weltoffen und westlich orientiert. Mit Reformen, zu denen auch eine neue Verfassung gehörte, verringerte er nach dem Arabischen Frühling 2011 den politischen Unmut der Bevölkerung. Von freier Meinungsäußerung und Demokratie können die Marokkaner trotzdem nur träumen. Die Regierung verwaltet lediglich den Staat, Entscheidungen werden nach wie vor hinter den verschlossenen Palasttüren getroffen, Kritik am König ist tabu. Ungeachtet dessen will Mohammed VI. sein Land fit machen für die Zukunft. Weit oben auf der Liste steht der Umweltschutz, für den er sich persönlich einsetzt. Als eine der ersten Maßnahmen wurden Plastiktüten gesetzlich verboten. Da passt es ins Bild, dass die Marokkaner jetzt das Fahrrad wiederentdecken. Auch in Marrakesch.
Nachmittags um 14 Uhr in der Nähe der Medina: Der Verkehr ist unglaublich, Minibusse, Autos, Mopeds, Roller, Eselskarren, Pferdekutschen überall. Ein System ist nicht erkennbar. Jeder fährt da, wo es möglich ist. Aus zwei Spuren werden in den verwinkelten Gassen plötzlich drei oder vier, und zwischendrin bahnen sich Fußgänger einen Weg durchs Gewusel. Auch beim Fahrradverleih Pikala Bikes ist gut was los. Mehrere Jugendliche werden in einer umgebauten Lagerhalle von einem Mechaniker geschult. Sie sollen lernen, wie man Räder repariert.
Draußen vor dem Tor steht die Niederländerin Cantal Bakker. Die 28-jährige ehemalige Kunststudentin kam vor rund vier Jahren nach Marrakesch und blieb. Was sie von Anfang an vermisste, war ein Fahrrad. Nach langer Suche konnte sie beim Nachbarn endlich einen alten Drahtesel auftreiben und damit die ersehnte Runde drehen. „Von diesem Moment an hat sich meine Sicht auf die Stadt völlig verändert“, erzählt sie. Sie konnte in kurzer Zeit mehr von Marrakesch entdecken als per pedes und lernte sich zurechtzufinden. So entstand die Idee für ihr Projekt. Ein Jahr später waren aus ihrer alten Heimat zwölf ausrangierte Hollandräder per Schiff unterwegs nach Nordafrika und Pikala Bikes gegründet (Fahrrad heißt auf marokkanisch Pikala). Der Plan: nachhaltigen Tourismus ankurbeln und Ausbildungsmöglichkeiten und Jobs für Jugendliche schaffen, denn die Arbeitslosigkeit unter den Jungen im Land ist hoch. Mittlerweile hat Bakker einen ganzen Fuhrpark und 28 Angestellte, die im Büro, als Radmechaniker oder Tourguides arbeiten oder in Ausbildung dafür sind.
Einer von ihnen Issam Facil. Der 23-jährige Englischstudent soll unsere Gruppe durchs Stadtzentrum an versteckte Orte führen. „Let’s go!“, ruft er und schon geht’s los – mittenrein ins Gewusel. Bereits nach kurzer Zeit verändert sich tatsächlich die Perspektive und die Bedenken, dass uns jemand über den Haufen fährt, erweisen sich als unbegründet. Stattdessen sieht es ganz so aus, als würde auf die Radfahrer besonders Rücksicht genommen. Der Weg führt vorbei am alten Königspalast, der Koutoubia-Moschee mit ihrem maurischen Minarett und dem berühmten Stadttor Bab Agnaou in das gepflegte Villenviertel Gueliz, teilweise sogar auf Radwegen, die um die von der roten Stadtmauer eingefasste Medina führen. Doch Issam zeigt auch „sein Marrakesch“.
Auf den Rädern geht es durch die engen Gassen der Souks, zum ältesten Hammam der Stadt, wo im Keller noch mit Holz das Dampfbad aufgeheizt wird, oder zu einer Bäckerei, die nur Einheimische kennen. „Alle Nachbarn bringen jeden Morgen hier ihren Teig vorbei, lassen ihn vom Bäcker im Holzofen ausbacken und holen später das fertige Brot wieder ab“, erzählt Issam. Selbst am Nachmittag stapeln sich noch jede Menge Fladenbrote im Regal – jedes in ein anderes Baumwolltuch eingeschlagen.
Zweieinhalb Stunden dauert die Tour, zwischendrin wird ein Stopp im Cross-Cultural-Café Clock eingelegt, wo auf der Dachterrasse hausgemachte Süßigkeiten, grüner Tee mit Minze, Kaffee mit Kardamom und Zimt sowie selbstgemachte Zitronenlimonade serviert werden. Ein Geheimtipp sind die Kochkurse hier. Gemeinsam wird mit der Lehrerin auf dem Markt eingekauft, ein traditionelles marokkanisches Menü mit Tajine im gleichnamigen Lehmtopf als Hauptspeise zubereitet und anschließend in gemütlicher Runde verspeist. Das Personal ist wie bei Pikala Bikes jung und motiviert.
„Ich liebe meinen Job, denn so kann ich fremde Menschen und Kulturen kennenlernen und mein Englisch verbessern“, erzählt Issam. Seine Chefin schmiedet derweil schon neue Pläne. Bei der Regierung läuft eine Anfrage für den Bau eines Radwegenetzes. Und sie will irgendwann expandieren. „Jede afrikanische Stadt sollte ein Pikala-Projekt haben“, sagt sie. Gerade in den Metropolen sei das Fahrrad allein schon aus Umweltschutzgründen doch die perfekte Alternative zu Bussen, Autos oder Mopeds. Unterstützt wird die Niederländerin von der Tui Care Foundation, die weltweit Bildung und Ausbildung von jungen Menschen sowie nachhaltigen Tourismus fördert.
Dass ihre Ideen schon bald Realität werden, daran hat Cantal Bakker keine Zweifel. Sie ist gut vernetzt und wird vor Ort ernst genommen. Ihr neuester Hit sind Fahrradklassen für Mädchen, die Pikala Bikes seit diesem Sommer im Park nebenan veranstaltet. Issam und die anderen Mitarbeiter haben viel Spaß dabei. Doch im Moment hat der Englischstudent anderes zu tun. Schon morgen früh kommen die nächsten Gäste, um „sein Marrakesch“kennenzulernen.