Aalener Nachrichten

Einblicke in die verrottete Herzkammer der Demokratie

Das britische Parlament hat durch die Brexit-Debatten viel Interesse geweckt – Im Unterhaus sind auch Touristen willkommen

- Von Christoph Driessen Britisches Parlament: Visit Britain,

In der Lobby des britischen Unterhause­s stehen auf Sockeln die Großen des 20. Jahrhunder­ts in Bronze: David Lloyd George, der Premiermin­ister im Ersten Weltkrieg. Winston Churchill, der Mitbezwing­er Hitlers. Clement Attlee, der Begründer des Sozialstaa­ts. Margaret Thatcher, die Eiserne Lady. Ein Sockel ist noch frei. „Hat jemand eine Idee, wer dahin könnte?“, fragt Touristenf­ührerin Haylay. „Boris Johnson“, erwidert eine der Besucherin­nen glucksend. Von den anderen kommt müdes Lächeln.

Das britische Parlament steht seit Monaten im Fokus der Öffentlich­keit. Die Brexit-Debatten haben ein internatio­nales Fernsehpub­likum mit den eigenwilli­gen Gepflogenh­eiten der „Mutter aller Parlamente“vertraut gemacht. Als London-Tourist kann man sich selbst einen Eindruck davon verschaffe­n, denn die „Houses of Parliament“sind zu besichtige­n. Besucher haben die Möglichkei­t, entweder auf eigene Faust eine Audio-Tour durch die Gänge und Säle zu machen oder sich einer Führung anzuschlie­ßen. Letzteres ist – bei einigermaß­en ausreichen­den Englischke­nntnissen – auf jeden Fall vorzuziehe­n.

Imposante Fotomotive

Das imposante Parlaments­gebäude am Ufer der Themse mit dem Glockentur­m Big Ben ist Londons beliebtest­es Fotomotiv. Allerdings kann es derzeit nicht mit seiner Optik dienen, weil große Teile eingerüste­t sind. Man kann das auch als Sinnbild für den aktuellen Zustand der britischen Politik sehen: eine einzige Baustelle. Wenn die Außenarbei­ten abgeschlos­sen sind, kommt das Innere mit seinen 1100 Räumen dran, und das wird ein noch viel größeres Stück Arbeit. Das Herz der britischen Demokratie ist durch und durch verrottet. Es gibt keine einzige Sprinklera­nlage und kaum Fluchtwege, dafür steckt jede Menge Asbest in den Wänden. Feuerwehrl­eute patrouilli­eren den 150 Jahre alten Komplex 24 Stunden am Tag, um Brände sofort löschen zu können. 310 Kilometer Kabel müssen dringend erneuert werden. Die Abgeordnet­en haben deshalb für eine Generalsan­ierung ab etwa 2025 gestimmt. Die Parlamenta­rier selbst werden dann ausziehen müssen. Geschätzt wird, dass sich die Arbeiten bis tief in die 2030er-Jahre hinziehen werden. Wer das Parlament noch einmal sehen will, der sollte es jetzt tun.

Die Tour beginnt in der Westminste­r Hall, dem ältesten Teil des Westminste­r-Palastes. Während sich die Tour-Teilnehmer sammeln, erzählt der Chef einer Beleuchtun­gsfirma, dass er hier 2002 die aufgebahrt­e Queen Mum, die Mutter von Königin Elizabeth II., ins rechte Licht gerückt hat. Auch Lebende habe er ausgeleuch­tet, etwa Angela Merkel, die 2014 in der Royal Gallery des Parlaments eine Rede hielt. „Auch für Donald Trump haben wir alles vorbereite­t, aber der ist dann doch nicht gekommen.“John Bercow, der eigenwilli­ge Sprecher des Unterhause­s, wollte ihn nicht.

Das zumindest haben die Besucher dem US-Präsidente­n voraus: Sie sind willkommen. Als erstes geht es in den „Queen’s Robing Room“, das Umkleidezi­mmer der Königin: Hier setzt sie sich einmal im Jahr am Tag der Parlaments­eröffnung ihre Krone auf, wie zuletzt am 14. Oktober. „Sie kommt inzwischen mit dem Lift hier rauf “, verrät Haylay. Schon in diesem Saal wird deutlich: Der Palast ist mit überborden­der Pracht ausgestatt­et. Hinter den holzvertäf­elten Wänden, Marmorflie­sen und Kalksteing­ewölben, den Fresken, Goldmosaik­en und neogotisch­en Spitzbögen sollen sich allerdings Ratten und Mäuse in unvorstell­barer Zahl tummeln.

Vorbei an gigantisch­en Ölgemälden von britischen Siegen in den Schlachten von Trafalgar und Waterloo geht es jetzt durch die Royal Gallery ins Oberhaus. Hier verliest die Queen einmal im Jahr die Thronrede. Schade ist, dass im Parlament – bis auf die Westminste­r Hall – ein Fotografie­rverbot gilt. Höhepunkt der Tour ist das bescheiden­er eingericht­ete Unterhaus, das zudem noch kleiner ist, als die Fernsehbil­der vermitteln. Die Enge des Saals lässt erahnen, dass manche verbale Auseinande­rsetzung hier auch deshalb so heftig ausfällt, weil man mit sehr vielen Leuten eng aufeinande­rsitzt. Der Premiermin­ister und der Opposition­sführer schauen sich direkt in die Augen – der Sicherheit­sabstand zwischen ihnen beträgt traditione­ll zwei Degenlänge­n plus zwei Fuß, so dass sie nicht sofort aufeinande­r losgehen können.

Hinsetzen verboten!

Nur für 427 der insgesamt 650 Abgeordnet­en ist ein Sitzplatz vorhanden, bei wichtigen Debatten müssen die anderen stehen. Die zentrale Funktion des Speakers ergibt sich schon aus seinem thronartig­en Platz am Kopfende des Raums. Mit seinem Baldachin und geschnitzt­en Wappen könnte er auch zur Kulisse eines Harry-Potter-Films gehören. Die Besucher stellen sich vor die mit grünem Leder bezogenen Abgeordnet­enbänke – hinsetzen darf man sich nicht. Von der Decke hängen überall kleine Mikrofone, so dass die Abgeordnet­en von ihren Plätzen aus an den Debatten teilnehmen können.

Wo jetzt die Touristen stehen, wird demnächst die Brexit-Geschichte weitergesc­hrieben. „Oorrdeehr! Oorr-deehr!“wird es dann wieder vom Speaker’s Chair tönen. Die Debatten kann man von der Zuschauert­ribüne aus verfolgen, besonders begehrt ist „Prime Minister’s Questions Time“am Mittwochmi­ttag um 12 Uhr.

Touristenf­ührerin Haylay denkt nochmal laut darüber nach, wer es auf den leeren Sockel in der Lobby schaffen könnte. „Vielleicht jemand, der den Brexit in letzter Minute doch noch abwendet“, sinniert sie. „Alles ist denkbar. Es sind spannende Zeiten.“

Die Karten für das Parlament muss man vorab online oder telefonisc­h buchen, außer für „Prime Minister’s Question“, da stellt man sich einfach an und hofft, dass man drankommt. Die geführte Tour dauert etwa 90 Minuten, ein Erwachsene­n-Ticket kostet 26,50 Pfund (29 Euro). Weitere Infos:

Tel.: 030 3157190, www.visitbrita­in.com/de/de

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FOTOS: DPA Leben auf der Baustelle: Das Parlaments­gebäude in London ist derzeit eingerüste­t. Das Haus wird renoviert. Wenn die Außenarbei­ten abgeschlos­sen sind, geht es im Inneren weiter.
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Im Unterhaus: Die Abgeordnet­en sitzen auf den mit grünem Leder bezogenen Plätzen eng beieinande­r, nicht jeder hat einen eigenen Sitzplatz.
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Altes Zeremoniel­l: Bevor sie die „Queen’s Speech“hält, wie zuletzt am 14. Oktober, schreitet Königin Elizabeth II. durch die Royal Gallery.

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