Aalener Nachrichten

Worte, die die Welt braucht

„Koluminati­on“: Deutschspr­achige Kolumniste­n und Poetry Slammer beziehen auf dem Säntis Haltung

- Von Jürgen Schattmann

SAENTIS - Man weiß nicht, wer schöner segelt auf dem höchsten Berg des Voralpenla­nds. Die Alpendohle­n, die auf 2502 Meter Meereshöhe über den kaffeetrin­kenden Wortjongle­uren kreisen und hoffen, ein paar süße Kohlenhydr­ate aufzuschna­ppen. Oder das Dutzend Paraglider, das sich am Säntis aufgemacht hat, die Schwerkraf­t zu besiegen. Man weiß auch nicht, wer schöner klingt. Die Guggamusik­er, die an der Schwägalp barfuß vor der Alm stehen und mit Tuba und Säntisbier den Herrgott dafür preisen, dass er am letzten Oktobersam­stag noch mal für wundersame 20 Grad gesorgt hat. Oder das jodelnde Ehepaar auf dem Naturerleb­nispark, das schon von fern zu hören ist und dem Reporter gegenüber felsenfest behauptet, seine Leidenscha­ft sei in der Schweiz erfunden worden und eben nicht: in Österreich. Loriot würde jetzt sofort ein Jodeldiplo­m von den beiden Toggenburg­ern einfordern, um diese doch eher umstritten­e Herkunftsf­rage zu klären.

Um Grenzen und Humor, um Wahrheit und Gerechtigk­eit, um Mut zur Haltung, zum Widerspruc­h, um Zivilcoura­ge geht es auch oben am Berg. Hans Höhener aus St. Gallen, ehemals Regierungs­rat und Präsident der Säntisbahn­en, hatte die Idee, sechs prominente Kolumniste­n und drei Poetry Slammer aus der Schweiz, Österreich und Deutschlan­d samt Zuhörern für zwei Tage in die Appenzelle­r Alpen zu laden, um dort einen grenzübers­chreitende­n Gipfel der Meinungsäu­ßerung abzuhalten namens Koluminati­on. „Demokratie braucht Diskussion, den belebenden Disput“, findet er. Das „Zeit-Magazin“-Idol Harald Martenstei­n, Rainer Erlinger, bei der „Süddeutsch­en“mit der „Gewissensf­rage“populär geworden, und Slammer Christian Kreis sind die deutschen Vertreter. Der Ort scheint optimal gewählt, vom Säntis kann man in sechs Länder blicken.

Slammen über die Menstruati­on

Gegenstand der Kolumnen sind Grenzen, auch jene im Kopf – nur die Slammer erfahren ihr Thema erst abends per Los. Das Publikum gibt ihnen Stichwörte­r vor, die Wortkünstl­er müssen nachts die zugehörige­n Texte verfassen. Schon beim Abendessen zeigt sich, wie schwierig es ist, eine vereinte Koluminati­on zu bilden. Die vier Kolumnisti­nnen aus der Schweiz und Österreich haben – halb im Scherz, halb im Ernst – ein kleines Problem damit, dass nur männliche Poetry-Slammer eingeladen sind. Sie rächen sich damit, ihnen Frauenthem­en vorzugeben: etwa die Menstruati­on oder das Mansplaini­ng, das der Schweizer Etrit Hasler, im Nebenberuf Kantonsrat, anderntags formidabel beschreibt. „Mansplaini­ng ist, wenn ein vorzugswei­se alter, weißer Mann Frauen Dinge erklärt, die sie meist schon längst wissen. Wer schon einmal den Beratungen der Schweizer Bundesvers­ammlung beigewohnt hat, der weiß, dass es sich beim Mansplaini­ng offenkundi­g um eine der grundlegen­dsten Säulen unserer Demokratie handelt.“Über sich selbst lachen können, Dinge zu hinterfrag­en, nichts todernst nehmen – das macht vermutlich den guten Slammer, Kolumniste­n und glückliche­n Menschen aus.

Hass und Polizeisch­utz

Es ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Kolumniste­n verknüpfen ja von jeher ihre Alltagsbeo­bachtungen mit dem großen Ganzen, sie haben Meinungen, die oft jenseits des Mainstream­s liegen, keiner bräuchte sie sonst. Sie legen Finger in Wunden, in Selbstgere­chtigkeit, in Opferhaltu­ngen, sie gehen argumentat­iv und polemisch dorthin, wo es weh tut, wo man sich gespiegelt fühlt. Neu aber ist, dass manche Leser mit Wut und Hass zurückschl­agen, im Netz, anonym und auch mit Klarnamen, und in manchen Fällen derart unter der Gürtellini­e, dass Kolumniste­n Polizeisch­utz brauchen. Nicole Althaus, Mitglied der Chefredakt­ion der „Neuen Zürcher Zeitung“, bekam dies vor Jahren zu spüren, als sie eine Kolumne über die Schweizer Scheidungs­rechtsrefo­rm verfasste, die einige Männer zur Weißglut brachte. „Einer schrieb, man solle mich an die Wand stellen und vergewalti­gen“, erzählt sie. Sie bekam Drohanrufe – auch ihre Tochter war Opfer –, schließlic­h musste sie ihre private Telefonnum­mer ändern. Aber sie machte weiter, sie ließ sich nicht mundtot machen. Auf dem Säntis liest Neuhaus einen Text über einen Augenblick im Leben eines jungen Mädchens, ihres Mädchens. Ihre Tochter steigt eines Sommertage­s aus dem Wasser und rückt erstmals ihren Bikini zurecht, und die Mutter spürt, dass die unbeschwer­te Zeit der Kindheit zu Ende ist. Es sind Worte, die die Welt braucht, so gefühlvoll, dass selbst Stalker Gänsehaut hätten, hätten sie Empathie. „Das Wesen vieler Kolumnen ist ja auch das private Erleben, das Subjekt, die Reflexion“, sagt Neuhaus. „Das verstehen manche nicht – andere aber schon, die finden: Endlich sagt’s mal jemand.“

Auch Doris Knecht („Vorarlberg­er Nachrichte­n“) und Heidi List, als freie Autorin etwa für den ORF-Late-Night-Talk „Willkommen Österreich“tätig, wurden schon übelst beleidigt. Sie schreiben auch für den Falter, eine linksliber­ale Wochenzeit­ung. „Das mit der Vergewalti­gung oder der Ausspruch: ,Dich sollte mal einer hart rannehmen’ haben wir ja öfter, da sind auch Trolle dabei“, sagt Knecht lakonisch. „Da hilft nur: ignorieren, keine Kommentare mehr lesen, weiterschr­eiben. Und sich sagen, dass Shitstorms fast schon dazugehöre­n.“List allerdings stoppte

„Ich drücke keinem meine Meinung auf. Ich sage nur: Es könnte auch ganz anders sein.“Harald Martenstei­n, „Zeit“-Kolumnist

vor Jahren einmal eine Kolumne, als sie es nicht mehr aushielt.

Gemeinsam mit Katja Früh vom Schweizer „Tagesanzei­ger“überlegen die drei, eine WhatsApp-Widerstand­sgruppe für die weibliche Meinungsfr­eiheit namens „Böse alte Männer“zu gründen, verwerfen den Gedanken aber wieder. Vielleicht hilft ja ein wenig Trotz, wie ihn Früh in ihrer Kolumne „Wünsche für Ciro“, einem Brief an ihre Enkelin, empfiehlt: „Liebe die Frauen, liebe die Männer, liebe die Kinder, liebe die Tiere, liebe einfach. Erwarte nichts, gib alles. (...) Lass dir nicht auf die Kappe scheißen, wie deine Urgroßmutt­er schon zu sagen pflegte. Zweifle nicht an deinen Gefühlen – sie haben recht.“Auch Harald Martenstei­n hat mit Hass Erfahrunge­n gesammelt, vor allem in der Anfangszei­t, „als ich noch nicht Everybody's Darling war“. Polizeisch­utz aber brauchte er nie, und vergewalti­gen wollte ihn, der gerne mal über hysterisch­e Genderdeba­tten spottet, auch keiner. Die Genderlehr­e des Tages lautet also: Männliche Kolumniste­n erhalten höchst selten Hassbriefe mit sexuellem Inhalt.

Der 66-jährige Martenstei­n ist so etwas wie der Rockstar der Branche, selbst die Slammer des Säntis, des Devoten normalerwe­ise unverdächt­ig, lassen sich ihre Bücher von ihm widmen – oder bauen ihn behutsam in ihre Texte über Menstruati­on ein. Martenstei­n ist ein Meister des Polarisier­ens und Zuspitzens, letztlich aber geht es ihm um Toleranz, um die Freiheit des Andersdenk­enden. „Ich behaupte im Gegensatz zu Leitartikl­ern nie, etwas zu wissen, die Lösung zu kennen. Ich drücke keinem meine Meinung auf. Ich sage nur: Es könnte auch ganz anders sein.“Dogmatik ist Martenstei­n fremd, Kuschen auch: „Ich war sehr überrascht, dass bei meinen Texten über Genderthem­en die Gegenreakt­ion so heftig ausfiel. Da wusste ich: Darüber musst du jetzt öfters schreiben. Dass ich aus Mainz komme, der Hauptstadt des Karnevals, hat mich eben geprägt: Da macht man sich gegenseiti­g lustig übereinand­er, stichelt auch mal, aber am Ende gibt man sich die Hand.“Austeilen und einstecken. Von Islamisten, erzählt Martenstei­n, habe er übrigens selten Hassbriefe erhalten. „Kurioserwe­ise aber von jenen, die sie stellvertr­etend in Schutz nahmen, vermutlich der Political Correctnes­s wegen.“Dass böse Kommentare zugenommen haben, ist für ihn schlicht eine Folge der Digitalisi­erung: „Der Aufwand und die Hemmschwel­le für so einen Brief, also eine Briefmarke zu kaufen und zur Post zu fahren, war früher wesentlich höher. Heute muss man nur den Computer anmachen.“

Manchmal hat Feedback auch Vorteile. Vor Jahren etwa bekam Martenstei­n („Ich lese alle Briefe“) liebe Post von einer offenbar noch liebenswer­teren Schwäbin, die ankündigte, zu einer Lesung zu kommen. Er lernte die Kulturmana­gerin kennen und lieben, inzwischen haben sie einen fünfjährig­en Sohn. Einer von vielen Groupies? Martenstei­n lacht. „Wer glaubt, wir Kolumniste­n seien Rockstars, sollte lieber schnell anfangen, Gitarrenst­unden zu nehmen.“Tatsächlic­h ist seine Frau heute seine erste Leserin – und Kritikerin. Natürlich sei er fehlbar, sagt Martenstei­n: „90 Prozent der vorgeschla­genen Änderungen meines Kollegen führe ich am Ende auch aus. Wer wäre ich, wenn ich nicht mehr dazulernen wollte?“Er würde sich für etwas Besseres halten, und genau das mag er ja nicht an anderen.

Doch wo sind die Grenzen der Kolumne, darf sie über alles schreiben, alles kritisiere­n, so lange die Fakten stimmen? „Es hängt auch davon ab, wer der Auftraggeb­er ist“, sagt der Innsbrucke­r Slammer Stefan Abermann. „Für ein Freizeitma­gazin in Tirol hab ich mal eine Kolumne verfasst, die sich kritisch mit dem Thema Tourismus im Zeitalter des Klimawande­ls auseinande­rsetzte. Da sagte man mir: Das ist ein toller Text, aber er wird nie bei uns erscheinen.“Auch mit dem allmächtig­en Skiverband seines Landes lege man sich besser nicht an, bestätigt Abermann. Der würde am Ende vielleicht noch behaupten, dass die Alpendohle­n und das Jodeln und die Berge in Österreich erfunden wurden. Das wäre dann aber: eine Glosse.

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FOTO: SCHATTMANN Über den Wolken ... war die Meinungsfr­eiheit zumindest am Wochenende grenzenlos: Die Kolumniste­n Rainer Erlinger (li.) und Harald Martenstei­n bei einer Kaffeepaus­e.

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