Worte, die die Welt braucht
„Kolumination“: Deutschsprachige Kolumnisten und Poetry Slammer beziehen auf dem Säntis Haltung
SAENTIS - Man weiß nicht, wer schöner segelt auf dem höchsten Berg des Voralpenlands. Die Alpendohlen, die auf 2502 Meter Meereshöhe über den kaffeetrinkenden Wortjongleuren kreisen und hoffen, ein paar süße Kohlenhydrate aufzuschnappen. Oder das Dutzend Paraglider, das sich am Säntis aufgemacht hat, die Schwerkraft zu besiegen. Man weiß auch nicht, wer schöner klingt. Die Guggamusiker, die an der Schwägalp barfuß vor der Alm stehen und mit Tuba und Säntisbier den Herrgott dafür preisen, dass er am letzten Oktobersamstag noch mal für wundersame 20 Grad gesorgt hat. Oder das jodelnde Ehepaar auf dem Naturerlebnispark, das schon von fern zu hören ist und dem Reporter gegenüber felsenfest behauptet, seine Leidenschaft sei in der Schweiz erfunden worden und eben nicht: in Österreich. Loriot würde jetzt sofort ein Jodeldiplom von den beiden Toggenburgern einfordern, um diese doch eher umstrittene Herkunftsfrage zu klären.
Um Grenzen und Humor, um Wahrheit und Gerechtigkeit, um Mut zur Haltung, zum Widerspruch, um Zivilcourage geht es auch oben am Berg. Hans Höhener aus St. Gallen, ehemals Regierungsrat und Präsident der Säntisbahnen, hatte die Idee, sechs prominente Kolumnisten und drei Poetry Slammer aus der Schweiz, Österreich und Deutschland samt Zuhörern für zwei Tage in die Appenzeller Alpen zu laden, um dort einen grenzüberschreitenden Gipfel der Meinungsäußerung abzuhalten namens Kolumination. „Demokratie braucht Diskussion, den belebenden Disput“, findet er. Das „Zeit-Magazin“-Idol Harald Martenstein, Rainer Erlinger, bei der „Süddeutschen“mit der „Gewissensfrage“populär geworden, und Slammer Christian Kreis sind die deutschen Vertreter. Der Ort scheint optimal gewählt, vom Säntis kann man in sechs Länder blicken.
Slammen über die Menstruation
Gegenstand der Kolumnen sind Grenzen, auch jene im Kopf – nur die Slammer erfahren ihr Thema erst abends per Los. Das Publikum gibt ihnen Stichwörter vor, die Wortkünstler müssen nachts die zugehörigen Texte verfassen. Schon beim Abendessen zeigt sich, wie schwierig es ist, eine vereinte Kolumination zu bilden. Die vier Kolumnistinnen aus der Schweiz und Österreich haben – halb im Scherz, halb im Ernst – ein kleines Problem damit, dass nur männliche Poetry-Slammer eingeladen sind. Sie rächen sich damit, ihnen Frauenthemen vorzugeben: etwa die Menstruation oder das Mansplaining, das der Schweizer Etrit Hasler, im Nebenberuf Kantonsrat, anderntags formidabel beschreibt. „Mansplaining ist, wenn ein vorzugsweise alter, weißer Mann Frauen Dinge erklärt, die sie meist schon längst wissen. Wer schon einmal den Beratungen der Schweizer Bundesversammlung beigewohnt hat, der weiß, dass es sich beim Mansplaining offenkundig um eine der grundlegendsten Säulen unserer Demokratie handelt.“Über sich selbst lachen können, Dinge zu hinterfragen, nichts todernst nehmen – das macht vermutlich den guten Slammer, Kolumnisten und glücklichen Menschen aus.
Hass und Polizeischutz
Es ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Kolumnisten verknüpfen ja von jeher ihre Alltagsbeobachtungen mit dem großen Ganzen, sie haben Meinungen, die oft jenseits des Mainstreams liegen, keiner bräuchte sie sonst. Sie legen Finger in Wunden, in Selbstgerechtigkeit, in Opferhaltungen, sie gehen argumentativ und polemisch dorthin, wo es weh tut, wo man sich gespiegelt fühlt. Neu aber ist, dass manche Leser mit Wut und Hass zurückschlagen, im Netz, anonym und auch mit Klarnamen, und in manchen Fällen derart unter der Gürtellinie, dass Kolumnisten Polizeischutz brauchen. Nicole Althaus, Mitglied der Chefredaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“, bekam dies vor Jahren zu spüren, als sie eine Kolumne über die Schweizer Scheidungsrechtsreform verfasste, die einige Männer zur Weißglut brachte. „Einer schrieb, man solle mich an die Wand stellen und vergewaltigen“, erzählt sie. Sie bekam Drohanrufe – auch ihre Tochter war Opfer –, schließlich musste sie ihre private Telefonnummer ändern. Aber sie machte weiter, sie ließ sich nicht mundtot machen. Auf dem Säntis liest Neuhaus einen Text über einen Augenblick im Leben eines jungen Mädchens, ihres Mädchens. Ihre Tochter steigt eines Sommertages aus dem Wasser und rückt erstmals ihren Bikini zurecht, und die Mutter spürt, dass die unbeschwerte Zeit der Kindheit zu Ende ist. Es sind Worte, die die Welt braucht, so gefühlvoll, dass selbst Stalker Gänsehaut hätten, hätten sie Empathie. „Das Wesen vieler Kolumnen ist ja auch das private Erleben, das Subjekt, die Reflexion“, sagt Neuhaus. „Das verstehen manche nicht – andere aber schon, die finden: Endlich sagt’s mal jemand.“
Auch Doris Knecht („Vorarlberger Nachrichten“) und Heidi List, als freie Autorin etwa für den ORF-Late-Night-Talk „Willkommen Österreich“tätig, wurden schon übelst beleidigt. Sie schreiben auch für den Falter, eine linksliberale Wochenzeitung. „Das mit der Vergewaltigung oder der Ausspruch: ,Dich sollte mal einer hart rannehmen’ haben wir ja öfter, da sind auch Trolle dabei“, sagt Knecht lakonisch. „Da hilft nur: ignorieren, keine Kommentare mehr lesen, weiterschreiben. Und sich sagen, dass Shitstorms fast schon dazugehören.“List allerdings stoppte
„Ich drücke keinem meine Meinung auf. Ich sage nur: Es könnte auch ganz anders sein.“Harald Martenstein, „Zeit“-Kolumnist
vor Jahren einmal eine Kolumne, als sie es nicht mehr aushielt.
Gemeinsam mit Katja Früh vom Schweizer „Tagesanzeiger“überlegen die drei, eine WhatsApp-Widerstandsgruppe für die weibliche Meinungsfreiheit namens „Böse alte Männer“zu gründen, verwerfen den Gedanken aber wieder. Vielleicht hilft ja ein wenig Trotz, wie ihn Früh in ihrer Kolumne „Wünsche für Ciro“, einem Brief an ihre Enkelin, empfiehlt: „Liebe die Frauen, liebe die Männer, liebe die Kinder, liebe die Tiere, liebe einfach. Erwarte nichts, gib alles. (...) Lass dir nicht auf die Kappe scheißen, wie deine Urgroßmutter schon zu sagen pflegte. Zweifle nicht an deinen Gefühlen – sie haben recht.“Auch Harald Martenstein hat mit Hass Erfahrungen gesammelt, vor allem in der Anfangszeit, „als ich noch nicht Everybody's Darling war“. Polizeischutz aber brauchte er nie, und vergewaltigen wollte ihn, der gerne mal über hysterische Genderdebatten spottet, auch keiner. Die Genderlehre des Tages lautet also: Männliche Kolumnisten erhalten höchst selten Hassbriefe mit sexuellem Inhalt.
Der 66-jährige Martenstein ist so etwas wie der Rockstar der Branche, selbst die Slammer des Säntis, des Devoten normalerweise unverdächtig, lassen sich ihre Bücher von ihm widmen – oder bauen ihn behutsam in ihre Texte über Menstruation ein. Martenstein ist ein Meister des Polarisierens und Zuspitzens, letztlich aber geht es ihm um Toleranz, um die Freiheit des Andersdenkenden. „Ich behaupte im Gegensatz zu Leitartiklern nie, etwas zu wissen, die Lösung zu kennen. Ich drücke keinem meine Meinung auf. Ich sage nur: Es könnte auch ganz anders sein.“Dogmatik ist Martenstein fremd, Kuschen auch: „Ich war sehr überrascht, dass bei meinen Texten über Genderthemen die Gegenreaktion so heftig ausfiel. Da wusste ich: Darüber musst du jetzt öfters schreiben. Dass ich aus Mainz komme, der Hauptstadt des Karnevals, hat mich eben geprägt: Da macht man sich gegenseitig lustig übereinander, stichelt auch mal, aber am Ende gibt man sich die Hand.“Austeilen und einstecken. Von Islamisten, erzählt Martenstein, habe er übrigens selten Hassbriefe erhalten. „Kurioserweise aber von jenen, die sie stellvertretend in Schutz nahmen, vermutlich der Political Correctness wegen.“Dass böse Kommentare zugenommen haben, ist für ihn schlicht eine Folge der Digitalisierung: „Der Aufwand und die Hemmschwelle für so einen Brief, also eine Briefmarke zu kaufen und zur Post zu fahren, war früher wesentlich höher. Heute muss man nur den Computer anmachen.“
Manchmal hat Feedback auch Vorteile. Vor Jahren etwa bekam Martenstein („Ich lese alle Briefe“) liebe Post von einer offenbar noch liebenswerteren Schwäbin, die ankündigte, zu einer Lesung zu kommen. Er lernte die Kulturmanagerin kennen und lieben, inzwischen haben sie einen fünfjährigen Sohn. Einer von vielen Groupies? Martenstein lacht. „Wer glaubt, wir Kolumnisten seien Rockstars, sollte lieber schnell anfangen, Gitarrenstunden zu nehmen.“Tatsächlich ist seine Frau heute seine erste Leserin – und Kritikerin. Natürlich sei er fehlbar, sagt Martenstein: „90 Prozent der vorgeschlagenen Änderungen meines Kollegen führe ich am Ende auch aus. Wer wäre ich, wenn ich nicht mehr dazulernen wollte?“Er würde sich für etwas Besseres halten, und genau das mag er ja nicht an anderen.
Doch wo sind die Grenzen der Kolumne, darf sie über alles schreiben, alles kritisieren, so lange die Fakten stimmen? „Es hängt auch davon ab, wer der Auftraggeber ist“, sagt der Innsbrucker Slammer Stefan Abermann. „Für ein Freizeitmagazin in Tirol hab ich mal eine Kolumne verfasst, die sich kritisch mit dem Thema Tourismus im Zeitalter des Klimawandels auseinandersetzte. Da sagte man mir: Das ist ein toller Text, aber er wird nie bei uns erscheinen.“Auch mit dem allmächtigen Skiverband seines Landes lege man sich besser nicht an, bestätigt Abermann. Der würde am Ende vielleicht noch behaupten, dass die Alpendohlen und das Jodeln und die Berge in Österreich erfunden wurden. Das wäre dann aber: eine Glosse.