Die Peitsche steht vorm Ortswechsel – und Toprak leidet
Durch Ostwestfalen abstiegsgeisterte das böse V-Wort bis Samstag: „Vereinsnegativrekord“. Aufgestellt hätte der SC Paderborn ebendiesen, hätte er auch gegen Fortuna Düsseldorf verloren und somit Bundesliga-Niederlage Nr. 6 in Folge kassiert. Hat er nicht: Ein Kunstschuss von Mittelfeldmann
und ein Hinterkopfball von Abwehrkraft – über Fortunas (größeren!)
hinweg ins Tor – bescherten SC-Trainer lange entbehrte Glücksgefühle („Ich freue mich einfach für die Jungs“) und dem Tabellenletzten nebst 2:0-Erfolg die Saisonzähler zwo bis vier. Wäre es bei nur einem Pünktchen Ausbeute nach jetzt neun Partien geblieben – man hätte den kärglichsten Ertrag in 57 Spielzeiten Liga-Historie zu diesem Zeitpunkt notiert, ex aequo mit dem 1. FC Saarbrücken 1963/64.
Sabiri Hoffmann Abdelhamid
Sebastian Schonlau André
Steffen Baumgart
Ein Exkurs sei erlaubt: Der Inbegriff fußballerischen Scheiterns im deutschen Oberhaus, der SC Tasmania 1900 Berlin, verlor 1965/66 zehnmal nacheinander, blieb 31 Spiele in Serie ohne Sieg, holte mit 15:108 Toren genau acht Punkte (zehn, hätte es die Drei-Punkte-Regel schon gegeben). Da ist man in Paderborn weit davon entfernt – viel weiter als ein gutes halbes Jahrhundert. Die Tasmanen wurden seinerzeit zum Aufstieg quasi genötigt, als Dritter der Regionalliga Berlin, aus (sport-)politischen Gründen und ziemlich unmittelbar vor dem Saisonauftakt. Von Spielern, die per Radio-Reiseruf aus dem Urlaub zurückgeholt werden mussten, berichten Zeitzeugen, von einer viel zu kurzen Vorbereitung, von überforderten Protagonisten. Eine Episode nur, veranschaulichend, charakteristisch: Der Trainingsstätte in Neukölln fehlten Flutlicht und Rasen, auf Schotterplätzen wurde geübt. Schotter ist dunkel, ohne Erleuchtung richtig dunkel. Aus dieser Not heraus, so heißt es, habe der findige Zeugwart Tasmanias Trainingsbälle für die Abend-Einheiten kurzerhand weiß lackiert.
Geholfen hat es nicht – und im Herbst 2019 sind die Spielgeräte ohnehin allesamt weiß (mit etwas schwarz und blauen Akzenten), haben allesamt einen Namen („Bundesliga Brillant APS“) und, so sagt es
der Geschäftsleiter Marketing & Produktion von Hersteller Derbystar, allesamt ein Innenleben: „Blau ist die Farbe der Seele und steht für unseren Glauben, dass jeder Ball eine Seele hat.“Das Runde, das in Paderborn zweimal ins Eckige fand, dürfte eine zutiefst sozialromantische Prägung erwischt haben. Im Zweifel für den Kleinen – zumal, wenn der ehrlich malocht. Taten die Heimischen und wurden belohnt (auch ohne ihr Tempospiel, weil Düsseldorf seine Hälfte mit drei Innenverteidigern und einem Defensivstmittelfeld bremsend zustellte). Wegbereiter Sabiri: „Dieser Sieg hat gezeigt, dass wir da sind. Man braucht auch mal ein Tor aus dem Nichts. So kann man in der Liga bleiben!“
Joachim Böhmer,
Mit der zweitbesten Laufleistung aller 18 sowieso. Allein Bayer Leverkusen (118,54) investiert mehr Kilometer je Begegnung als der Neuling (118,25).
Apropos Leverkusen: In der BayArena feierten die Vielläufer vorgestern Wiedersehen mit Die Feierlaune allerdings war recht ungleich verteilt nach dem 2:2, hatte der gebürtige Ravensburger – seit Sommer für Werder Bremen verteidigend – doch ein Eigentor zum Remis beigesteuert. Vierte Minute, Eckball Bayer, Kopfballverlängerung
„und dann geht’s schnell. Da kann ich nicht mehr viel machen. Er knallt an mein Schienbein und geht rein.“Nicht eben das Comeback, das sich einer wünscht, der zuletzt sechsmal wegen
Ömer Toprak. Lucas Alario,
eines Muskelfaserrisses in der Wade auf der Tribüne mitlitt. Einer, über den sein Trainer unter der Woche gesagt hat: „Ömer ist ein Führungsspieler und für mich gesetzt. Seine Geschwindigkeit, seine Präsenz und sein Kopfballspiel tun uns sicherlich gut.“
Peschke, Florian Kohfeldt
Jetzt also ein Selbsttor, dann trifft Alario erst zum Ausgleich, später Ömer Toprak mit dem Fuß im Gesicht. Die Nase blutete in Minute 87, mehr noch jedoch schmerzte manch Ex-Kollegen-Kommentar aus Richtung Leverkusener Bank. „Die Leute kennen mich eigentlich und wissen, dass ich kein Schauspieler bin. Wenn man sechs Jahre hier spielt, habe ich das so nicht verdient.“2011 bis 2017 trug Ömer Toprak den Bayer-Dress, kam auf 203 Pflichtspieleinsätze. Fußball ist schnelllebig.
Da ist es tröstlich, dass Vereinsnegativrekorde mitunter nicht zustande kommen. Dass auch Tasmania Berlins alte Recken sich einen Blick zurück abseits aller schlimmen Zahlen bewahrt haben. Der rechte Läufer
(bekannter als „Atze“) Kapitän der 1965/66er-Elf, erinnerte sich 2012 im Magazin „11 Freunde“so: „Wir hatten einen Spieler,
unser Clown, der wurde von einem Journalisten gefragt, wie man sich denn als Tabellenletzter fühle. Seine Antwort war: ,So schlimm ist es nicht. Wir peitschen ja die gesamte Bundesliga vor uns her!‘ Ohne diesen Humor hätten wir das nicht durchgestanden. Wir waren ein gutes Team.“Sind sie in Paderborn auch. Die Peitsche steht vorm Ortswechsel.
HansGünter Becker,
Eckhardt