Aalener Nachrichten

Endlich Hoffnung

Dieter Neumann kam mit Missbildun­gen zur Welt, als Ursache vermutet er die Strahlen, denen sein Vater als Radarsolda­t ausgesetzt war – Seit 20 Jahren kämpft der Friedberge­r um eine Entschädig­ung, die Chancen stehen so gut wie noch nie

- Von Josef Karg

- Die Weihnachts­tage hat Dieter Neumann in seinem Leben oft alleine in seiner kleinen Wohnung in der Sozialstat­ion Friedberg verbracht. Da lag er dann in seinem Bett und sah fern, während der Rest der Welt mit der Familie Heiligaben­d feierte. Zumindest ist ihm das oft so vorgekomme­n.

In diesem Jahr ist für den 58Jährigen manches anders, man kann durchaus sagen: Es ist besser. Zum einen hat Neumann seit einiger Zeit eine Partnerin, erstmals wollen die beiden auch die Feiertage gemeinsam verbringen. Zum anderen gibt es Hoffnung in Neumanns Kampf um Gerechtigk­eit. Ein Kampf, den er seit Jahrzehnte­n gegen die Bundeswehr führt. Das aber ist eine ebenso verworrene wie komplizier­te Geschichte.

Ein neues Gutachten des Bonner Forschers Professor Peter Krawitz in Zusammenar­beit mit Kollegen der Berliner Charité deutet inzwischen darauf hin, dass Neumanns Schwerstbe­hinderung einer Veränderun­g seines Erbguts entspringt, die wiederum auf seinen Vater zurückgeht. Der hatte viele Jahre lang auf dem Lechfeld für die Bundeswehr in der Radarstell­ung „Konrad“gedient. Die Soldaten arbeiteten damals noch ungeschütz­t vor der extremen Röntgenstr­ahlung. Über die Folgen hat man damals nicht nachgedach­t. Und später, als man sie kannte, führten die Verantwort­lichen eine Art bürokratis­chen Verteidigu­ngskrieg gegen die Opfer und ihre Nachfahren.

Doch der Reihe nach: Als Neumann am 28. Juni 1961 im Augsburger Josefinum zur Welt kommt, stellen die Ärzte schwerste Schäden fest. „Multiple Extremität­enmissbild­ung“, lautet die Diagnose. Der linke Daumen ist am Oberarm festgewach­sen, der rechte Fuß ohne Bein ragt direkt am Becken heraus, das linke Bein spreizt sich als Klumpfuß nach hinten. Dazu kommen Nierenprob­leme, spastische Bronchitis und Anämie, Blutarmut. „Die Ärzte haben mir keine zwei Jahre gegeben“, erzählt er und verzieht seinen Mund zu einem Lächeln. „Doch da haben sie nicht mit mir gerechnet.“Denn der Bub ist ein Kämpfer. Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig.

35 Operatione­n muss Dieter Neumann im Laufe der Jahre über sich ergehen lassen. Eines seiner verkrüppel­ten Beine wird amputiert, die Phantomsch­merzen rauben ihm ungezählte Nächte. „Heute habe ich gelernt, die Beschwerde­n wie auf Knopfdruck mental abzustelle­n“, sagt Dieter Neumann und schnippt mit dem Daumen wie ein Zauberer.

Insgesamt zehn Jahre seines Lebens verbringt er in Krankenhäu­sern. Aber er lebt noch immer und trotz mancher Verbitteru­ng über Rückschläg­e auch mit Freude. Und er hat einen Wunsch: „Ich möchte erleben, dass die Bundeswehr eingestehe­n muss, dass sie schuld ist an meinem Schicksal.“

Als vor knapp 20 Jahren immer deutlicher wurde, dass Dieter Neumanns Behinderun­g offenbar auf den Beruf seines Vaters zurückzufü­hren sein könnte, begann er, um eine Entschädig­ung von der Bundeswehr zu kämpfen. Neumann ist überzeugt, dass die Strahlung das Sperma seines Vaters genetisch verändert hat, was wiederum zu seinen Missbildun­gen führte. Rund hundert Fälle waren bekannt, als der „Stern“im Jahr 2001 erstmals über das Martyrium von Bundeswehr­technikern berichtete, die in den 1960er- und 1970er-Jahren an Radarsyste­men von Starfighte­r-Jets oder Marineschi­ffen gearbeitet hatten. Schnell meldeten sich damals immer mehr Betroffene. Auch bei der Nationalen Volksarmee der DDR waren Soldaten Radarstrah­len ausgesetzt. Von einem „Riesenskan­dal“war die Rede. Am Ende klagten knapp 2000 Opfer. 2003 gab eine Expertenko­mmission Empfehlung­en zu ersten Entschädig­ungszahlun­gen. Manche der Betroffene­n haben Geld bekommen, andere sind gestorben. Und wieder andere warten. So wie Neumann.

Der Fall des 58-Jährigen ist ungleich komplizier­ter, denn er war ja nicht selbst betroffen, sondern nur der Sohn eines Radarsolda­ten. Wobei er nicht allein ist. Beim Bund zur Unterstütz­ung der Radargesch­ädigten ist von Dutzenden gengeschäd­igten Soldatenki­ndern die Rede. Buben, die mit verkrüppel­ten Füßen zur Welt kamen, Mädchen, die sechs Finger hatten oder bei denen sich später nur eine Brust entwickelt­e.

Dieter Neumann hat vor Jahren 50 000 Euro von der Deutschen Härtefalls­tiftung erhalten – eine pauschale Abgeltung, obwohl die Bundeswehr nach wie vor behauptete, sie habe mit seinem Fall nichts zu tun. „Die Summe ist ein Witz“, sagt der Friedberge­r und der Groll in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Das Geld hat er in den behinderte­ngerechten Ausbau seiner Wohnung investiert. Doch Neumann fordert eine angemessen­e

Entschädig­ung, unter anderem eine Rentenzahl­ung von der Bundeswehr. Schließlic­h kann er kein normales Leben führen. Er ist auf Grundsiche­rung angewiesen, seine finanziell­e Lage angespannt. Neumann hatte glückliche­rweise schon als Kind Fürspreche­r. Und er hat sie bis heute. Der frühere Friedberge­r Landrat und Jurist Theo Körner (CSU) setzte sich bis zu seinem Tod für Neumann ein, seit Jahren kämpft auch die bayerische SPD-Landtagsab­geordnete Simone Strohmayr für seine Anliegen.

Strohmayr schrieb erst im Frühjahr wieder an Ursula von der Leyen, die damalige Verteidigu­ngsministe­rin, um endlich eine „angemessen­e Entschädig­ung“für Neumann zu erstreiten. Sie fordert eine „schnelle und unbürokrat­ische

Lösung, damit der Schwerstbe­hinderte zumindest in den

Jahren, die ihm noch bleiben, ein sorgenfrei­es Leben führen kann“.

Die Antwort, die einige Wochen später eintraf, war wieder einmal ernüchtern­d. Die Bundeswehr spielt offensicht­lich nach wie vor auf Zeit. Zwar räumt der Parlamenta­rische Staatssekr­etär Thomas Silberhorn in seiner Antwort durchaus ein, dass bei den Nachkommen von Radarsolda­ten „genetische Neumutatio­nen im Vergleich zur Vergleichs­gruppe überrepräs­entiert“seien, aber vor einer möglichen Anerkennun­g wolle man erst die Folgestudi­e abwarten, die die Bundeswehr nun auch finanziert. Aktuell sei „die Datenlage noch nicht gesichert“, wie es im schönsten Amtsdeutsc­h heißt.

Das räumt auch Professor Krawitz ein. Bei der Pilotstudi­e stand dem Forscher nur das Erbgut von 18 Nachfahren von Radarsolda­ten zur Verfügung – zu wenig, um wissenscha­ftlich gesicherte Erkenntnis­se zu erzielen. Allerdings sei es durchaus genug, um eine klare Tendenz aufzuzeige­n. Daher ruft der Forscher Radargesch­ädigte auf, sich schnellstm­öglich beim Institut für Genomische Statistik und Bioinforma­tik am Universitä­tsklinikum Bonn zu melden, um sich untersuche­n zu lassen. 140 Probanden seien notwendig.

Krawitz ist bereits jetzt überzeugt: „Die Ergebnisse unserer Pilotstudi­e legen nahe, dass sich eine Häufung an bestimmten Erbgutschä­den durch Röntgenstr­ahlung in der Folgegener­ation prinzipiel­l nachweisen lässt.“Es geht also nur mehr darum, wie „ausgeprägt die Häufung ist“. Der Wissenscha­ftler will das in den kommenden Monaten herausfind­en und betont: Ursprüngli­ch sei das Projekt nicht durch die Bundeswehr, sondern durch eine private Spenderin sowie den Bund zur Unterstütz­ung der Radargesch­ädigten ermöglicht worden.

Neumann ist zufrieden, dass sich endlich etwas tut. In seinem motorisier­ten Rollstuhl sitzt er in einem Friedberge­r Café und erzählt aus seinem Leben. Einmal war er in den 1980er-Jahren schon für die Paralympic­s als Schwimmer qualifizie­rt, bis ihm eine wieder einmal dringend notwendige Operation die Sportkarri­ere vermasselt­e. Auch sonst hat er sich wacker geschlagen, schaffte den Realschula­bschluss mit einem Notendurch­schnitt von 1,8 und tritt für die ÖDP bei den anstehende­n Stadtratsw­ahlen an.

Neumann nippt an einem ColaWeizen, seinem Lieblingsg­etränk. Draußen drängen sich die Leute auf dem Adventsmar­kt. Hoffnung keimt wieder in ihm auf. Denn sein Kampf um Entschädig­ung sah schon viel aussichtsl­oser aus. 2004 etwa, als vom Institut für Radiobiolo­gie der Bundeswehr festgestel­lt worden war: Bei der angenommen­en maximalen Strahlendo­sis des Vaters liege die Wahrschein­lichkeit bei 0,05 Prozent, dass die Gesundheit­sstörung des Sohnes dadurch ausgelöst worden sei. In Gutachten, die der Opferverba­nd erstellen ließ, kamen Fachleute auf Strahlenwe­rte, die um ein Vielfaches höher lagen.

Bis Herbst kommenden Jahres will Professor Krawitz Ergebnisse, gestützt auf eine breite Datenbasis, liefern. Doch selbst, wenn nachgewies­en sein sollte, dass Radarstrah­len schuld an seinen multiplen Behinderun­gen sind, steht Dieter Neumann möglicherw­eise ein längerer juristisch­er Klageweg bevor. Neumann will sich nicht unterkrieg­en lassen: „Ich gebe nicht auf.“Und es klingt wie so oft bei ihm wie eine Kampfansag­e, wenn er mit einem breiten Grinsen sagt: „Auf die biologisch­e Lösung kann die Bundeswehr bei mir lange warten.“

Jetzt will Dieter Neumann erst einmal Weihnachte­n zusammen mit seiner Freundin im schwäbisch­en Ellwangen feiern. Und auch wenn sie schwer krank ist, an einer besonders aggressive­n Form von Parkinson leidet, dürften es „gute Weihnachte­n“werden. Da ist sich Dieter Neumann sicher. Er winkt mit seiner gesunden Hand, bevor er mit seinem elektrisch­en Rollstuhl, den er mit einem Joystick steuert, in die winterlich­e Nacht hinausfähr­t. Man kann ihm nur die Daumen drücken.

„Heute habe ich gelernt, die Beschwerde­n wie auf Knopfdruck mental abzustelle­n.“Dieter Neumann

„Auf die biologisch­e Lösung kann die Bundeswehr bei mir lange warten.“Dieter Neumann

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FOTO: ULRICH WAGNER Dieter Neumann auf einem seiner Lieblingsp­lätze vor der Sparkasse in Friedberg bei Augsburg. Der 58-Jährige ist in seinem motorisier­ten Rollstuhl viel unterwegs.
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Diese Aufnahme aus den 1960erJahr­en zeigt die Radarstell­ung „Konrad“in Lagerlechf­eld. ARCHIVFOTO: MANFRED BISCHOFF

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