Eine junge Jesidin trotzt jeden Tag der Gefahr
Die kurdische Politikerin Gülistan Ali Hassan ist Abgeordnete in Mossul – Bedrohungen gehören zu ihrem Alltag
G- Diese Frau fällt auf. Knapp 1,50 Meter geballte Energie. Wenn Gülistan Ali Hassan spricht, sind ihr Gesicht und ihre Hände in Bewegung. Sie trägt ihre schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, dazu einen schwarzen Nadelstreifen-Hosenanzug und hohe Plateauschuhe. Traditionell jesidisch sieht anders aus. Doch was sagt das schon? Gülistan Ali Hassan kämpft für die Rechte von Jesiden wie wenige andere Frauen im Nordirak. Die 33-Jährige ist als Abgeordnete der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) für die Provinz Ninive zuständig, ihr Dienstsitz ist Mossul. In dieser Weltregion sind Splitterschutzwesten eine Art Arbeitskleidung. „Wenn ich morgens von meinem Wohnort Baadre ins Büro fahre, passiere ich mindestens sechs große Checkpoints“, erzählt die kurdisch-jesidische Politikerin in einem Restaurant in der nordirakischen Provinzhauptstadt Dohuk. Dazu kommen unzählige weitere Polizeiposten. Denn die Angst vor Anschlägen ist nach wie vor groß im Irak.
Dass sie jeden Tag nach Mossul fährt, ist für viele Christen und Jesiden im Nordirak unvorstellbar. In dieser Stadt hatte der frühere Anführer der Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS), Abu Bakr al-Baghdadi, das Kalifat ausgerufen. Als ihnen die militärische Niederlage dräute, haben die Dschihadisten auf dem Rückzug aus der Stadt so viel zerstört und vermint, wie sie nur konnten. Der Großteil der Einwohner sind irakische Sunniten, die zum Teil Sympathien für den IS gezeigt haben. Jetzt liegt der Westteil Mossuls in Schutt und Asche, der Wiederaufbau geht nur schleppend voran. „Es wird viel darüber gesprochen, aber in der Praxis wenig umgesetzt“, sagt Gülistan Ali Hassan. Deshalb sei die Sicherheitslage nach wie vor so schlecht. Wer am Tag dort arbeitet, verlässt, wenn möglich, abends die Stadt und fährt ins 80 Kilometer entfernte Erbil, die Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan.
„Denn nachts gehört Mossul auch zweieinhalb Jahre nach dem militärischen Sieg über den IS den Dschihadisten“, sagt Gülistan Ali Hassan.
Im Provinzrat von Ninive treffen die verschiedenen Religionen des Iraks aufeinander – Schiiten, Sunniten, Christen, Schabak und natürlich Jesiden. Spannungsfrei ist diese Mischung nicht, zumal die Folgen des Völkermords an den Jesiden und die Vertreibung der Christen noch überall präsent sind. „Aber wenn ich weiß, dass Sunniten nicht unmittelbar an den IS-Verbrechen beteiligt waren, spreche ich auch mit ihnen“, sagt die Abgeordnete Gülistan Ali Hassan – zumal ihre sunnitischen Kollegen auch dafür gestimmt hätten, die Taten der Terrormiliz als Völkermord zu werten. Doch Bedauern von Herzen würden nur wenige zeigen. Deshalb glaubt die Politikerin nicht daran, dass Sunniten und Jesiden jemals wieder so zusammenleben könnten, wie es vor dem 3. August 2014 im Irak möglich war.
Riskante Dienstfahrten im Shingal Auch im Shingal-Gebiet war das der Fall. Die Dienstfahrten in diese Region der Ninive-Ebene sind für Gülistan Ali Hassan noch riskanter als der alltägliche Bürobesuch in Mossul. Denn dort gibt es weder Sicherheit noch Stabilität, seit die Region von bewaffneten Milizen wie den schiitischen Hashd al-Schaabi-Einheiten kontrolliert wird. „Es ist eine große Schande, dass die irakische Zentralregierung diese Gruppe unterstützt“, sagt die 33-Jährige. Wegen der unsicheren Lage könne sie den vor dem IS geflohenen Jesiden auch nicht empfehlen, in das Shingal-Gebiet zurückzukehren – so trostlos die Situation in den Camps auch sein mag. „Ich habe die Zerstörungen mit eigenen Augen gesehen. Dort kann man nicht leben.“
Dass sie sich bei ihrer Arbeit selbst immer wieder in Gefahr bringt, ist Gülistan Ali Hassan bewusst. Deshalb hat sie zwei Leibwächter an ihrer Seite. „Und mein Vater engagiert manchmal heimlich noch mehr Aufpasser, wenn er denkt, dass es riskant werden könnte“, sagt sie. Doch den Unfall auf ihrem Weg ins Büro konnte auch er nicht verhindern: Ihr Auto wurde von einem Lastwagen von der Straße abgedrängt, beide Leibwächter starben, sie selbst hatte schwere Kopfverletzungen und einen komplizierten Beinbruch. Ob sie davon ausgeht, dass dies tatsächlich ein Unfall war? „Ich weiß es nicht“, sagt sie. „Aber wer denkt, solche Vorfälle würden mich davon abhalten, meinen politischen Weg weiterzugehen, irrt.“
Ihr großes Vorbild ist ihr Vater, der als Peschmerga, als Soldat der kurdischen Streitkräfte, und als Mitglied der Demokratischen Partei Kurdistans jahrzehntelang für die Anliegen der Kurden gekämpft hat. „Er hat mir beigebracht, keine Angst zu haben. Auch nicht vor den Terroristen des IS.“Und deshalb ist Gülistan Ali Hassan nicht Lehrerin geblieben, sondern hat sich, anders als ihre fünf Brüder und drei Schwestern, nach ihrem Studium in die politische Arbeit gestürzt.
Frauenrechte, Minderheitenrechte, die kurdische Selbstbestimmung im Irak – das sind ihre Themen, nicht nur Jugend und Sport, für die sie eigentlich zuständig wäre. „Ich will, dass Frauen mehr gehört werden in der irakischen Politik. Und ich will mich als kurdische Jesidin definieren können, auch wenn das bei arabischen Politikern nicht gut ankommt.“Doch wenn sie, wie so oft, angefeindet und bedroht wird, geht es nicht nur um solche hochpolitischen Aussagen. „Es reicht schon, ein enges Kleid zu tragen, Hosen anzuhaben, sich ohne Kopftuch und Mantel öffentlich zu zeigen“, sagt Gülistan Ali Hassan. Viele irakische Männer hätten mit selbstbewussten Frauen nach wie vor ein Problem. „Das zu ändern, ist hierzulande tausendmal schwieriger als in Deutschland“, glaubt sie. Entmutigen lässt sie sich davon aber nicht – solange sie den Rückhalt ihres Vaters und ihrer Familie hat.
Im April 2020 soll der Rat für die Provinz Ninive neu gewählt werden. Gülistan Ali Hassan lässt es bislang offen, ob sie nochmal antreten wird. „Wenn mich die Partei auf Platz eins der Liste setzt, überlege ich es mir“, sagt sie. „Aber das ist nicht sicher. Im Irak ist nie etwas sicher, nicht einmal der nächste Wahltermin.“