Ein Vierteljahrhundert Putin
2024 soll die letzte Amtszeit des russischen Präsidenten enden – Die Unruhe im Land wächst seit Jahren
- Im Frühjahr 2024 ist es so weit: Wladimir Putins letzte Amtsperiode läuft aus. Nach fast einem Vierteljahrhundert am Ruder Russlands könnte sich der Präsident endgültig ins Private zurückziehen.
Vier Jahre bleiben dem Kremlchef noch, um das Land zu regieren. Ideen über Zukunft und Nachfolge frühzeitig preiszugeben, empfiehlt sich in Moskau allerdings nicht. Das ist auch ein Grund, warum der Präsident Vorstellungen selten öffentlich teilt. Eingeweihte meinen gar, er würde Einfluss verlieren und zur „lahmen Ente“degradiert, sobald der Name eines Thronfolgers gefallen sei. Elite und Volk würden sich vorzeitig um den Erwählten scharen.
Die Spekulationen, welche Richtung Moskau ab dem Jahr 2024 einschlagen könnte, halten daher an. Es ist zur Schlüsselfrage der russischen Eliten geworden. Deren Mitglieder vermeiden es jedoch, öffentlich darüber nachzudenken. Wird Putin so einfach von der Macht Abschied nehmen?
Föderation mit Weißrussland? Inzwischen sollen Dutzende Wege erwogen werden, die Amtszeit des Kremlchefs doch noch einmal zu verlängern.
Eine Möglichkeit wäre ein engerer Zusammenschluss mit dem Nachbarn Weißrussland. Wladimir Putin könnte einem neuen erweiterten Staatsverband vorstehen, der keine Verfassungsreform erforderlich machen würde.
Russland könnte die präsidiale Macht auch in einen Staatsrat verlegen, dem Putin vorsitzen würde. Überlegt wird unterdessen auch, noch einmal Premier Dmitrij Medwedjew zu bemühen. Der war für den Kremlchef zwischen 2008 und 2012 schon einmal als Präsident eingesprungen und hatte den Platz dann lautlos geräumt, als der wahre Herrscher das Amt wieder einforderte.
Da der Kremlchef Überraschungen schätzt, könnte aber auch ein völlig neuer, handzahmer Kandidat präsentiert werden. Das sind lediglich Spekulationen. Mit Ausnahme des russischen Präsidenten Boris Jelzin in den 1990er-Jahren und des kommunistischen Generalsekretärs, Michail Gorbatschow, räumte bislang kein russischer Herrscher zu Lebzeiten freiwillig den Kreml.
Wladimir Putin legt auch Wert auf gewachsene Traditionen. Die politische und wirtschaftliche Elite im weiteren Umfeld des Kreml brachte sich für alle Fälle schon in Stellung.
Der engere Kreis des Präsidenten bevorzugt unterdessen Stabilität. Ihr Wunsch: Möge alles so weiterlaufen wie bisher und auch der Staat als Privatschatulle zur Verfügung stehen.
Auf den ersten Blick scheint Putins Macht in Russland gefestigt zu sein. In den vergangenen Jahren vertes liefen Präsidentenwahlen meist unspektakulär. Der Kremlchef wurde jedes Mal im ersten Wahlgang bestätigt. Dafür sorgte schon die sichere Auswahl aussichtsloser Gegenkandidaten und mannigfaltiger Wahlmanipulationen. Dazu kamen Strafmaßnahmen gegen unabhängige Presse und unbotmäßige Oppositionelle.
Es war jedoch immer ein hartes Stück Arbeit, die Macht auf diese Art zu sichern. Zunächst mussten Sicherheitsorgane und Geheimdienste gleichgeschaltet und die Medien unter Kontrolle gebracht werden.
Auch Justizwesen und Gerichte wurden auf Linie gebracht und Parlamente unschädlich gemacht. Das umfasste die Agenda der ersten beiden Amtsperioden des Kremlchefs bis 2008. Auch einige ungebändigte Oligarchen mussten noch an die Leine gelegt, ins Straflager verbannt oder zur Emigration gezwungen werden. Prominentestes Opfer war der Öl-Oligarch Michail Chodorkowski, Eigentümer des Konzerns Yukos, der von 2003 an in einem Lager in Sibirien saß. Parallel wurde wieder die Zentralisierung des Staabetrieben. Jede Form regionaler Selbständigkeit war dem Kreml ein Dorn im Auge und stimmte das Machtzentrum misstrauisch. Nachdem tschetschenische Terroristen 2004 in Beslan eine Schule in Geiselhaft genommen hatten, schaffte der Kreml die Gouverneurswahlen in den Regionen kurzerhand ab. Moskau verkaufte dies als antiterroristische Maßnahme und Sicherheitsgebot der Stunde.
Tatsächlich sollten die jungen Freiheiten der 1990er-Jahre wieder abgeschafft werden. Regionen und Völker hatten erneut nach altem Muster zu funktionieren. Putin wollte ursprünglich eine „Diktatur des Gesetzes“errichten. Das hatte er bei Amtsantritt zumindest versprochen. Das Gesetz blieb auf der Strecke.
Wie weit der junge Kremlchef im Vergangenen verhaftet blieb, verriet er 2004, als er mit dem Ausspruch aufhorchen ließ, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“gewesen. Eine Chance auf Freiheit und Selbstbestimmung entdeckte er in dem fast friedlichen
Ende der UdSSR nicht. Wladimir Putin legt großen Wert auf Stärke. Danach beurteilt er Menschen und Staaten. Kompromisse hält er eher für eine westliche Schwächeerscheinung. Auch Win-win-Situationen begegnet er mit Argwohn. In seiner Welt sollte es immer einen klaren Sieger geben.
Bis 2012 hielt der Aufschwung
Bis 2012 war es Moskau gelungen, die Mehrheit der Wähler mit wirtschaftlichen Erfolgen zufriedenzustellen. Viele Bürger tauschten Aufschwung gegen politisches Mitspracherecht. Das endete schlagartig, als massiver Wahlbetrug bei den Duma-Wahlen im Herbst 2011 aufgedeckt wurde.
Auf dem Bolotnaja-Platz im Zentrum Moskaus kam es zu Kundgebungen. Zigtausende Demonstranten nahmen teil. Damit hatte der Kreml nicht gerechnet und zeigte sich zunächst auch gesprächsbereit. Im März 2012 wurde der Präsident trotz allem mit 63 Prozent wiedergewählt. Bei der Inthronisation am 6. Mai ging die Polizei indes mit Gewalt gegen die Menge vor. Danach setzten reihenweise Prozesse gegen junge Leute ein, die wahllos von Sicherheitskräften aus der Menge herausgegriffen und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Bolotnaja-Prozesse sollten die Unzufriedenen einschüchterten. Das gelang auch.
Ruhiggestellt wurde der Protest endgültig durch die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine 2014. Eine Welle des Hurrapatriotismus erfasste auch oppositionelle Kräfte, die bei der russischen „Wiedergeburt“in der Ukraine nicht außen vor bleiben wollten.
Nach fünf Jahren ist diese Begeisterung aber wieder verflogen. Der Krim-Bonus trägt nicht mehr. In Tiefeninterviews im vergangenen Sommer räumten viele Bürger ein, ihnen sei inzwischen mehr an größerer Teilhabe, Mitsprache und persönlicher Achtung gelegen denn an wirtschaftlichen Verbesserungen und außenpolitischem Erfolg.
Es sind neue Orientierungen, die sich seit Frühjahr 2018 beobachten lassen. Ob und wie lange die Veränderungen wirken, lässt sich schwer abschätzen. Sie tragen aber zur Verunsicherung im Kreml bei.
Denn Unruhe lässt sich überall in Russland erkennen, ob in Jekaterinburg im Ural, in Archangelsk im hohen Norden oder im Süden in Krasnodar oder Rostow am Don. Von ökologischen Anliegen bis zu Baurichtlinien und Menschenrechten reichen die Beschwerden. Erschwerend kommt hinzu, dass seit Mitte 2019 auch die Vormachtstellung des staatlichen TVs gegenüber den sozialen Netzwerken geschrumpft ist.
Und dann gingen im Sommer in Moskau auch noch tausende Demonstranten gegen das Verbot auf die Straße, eigene Kandidaten für Wahlen in der Hauptstadt aufstellen zu dürfen.
Wieder setzte eine Hatz auf Demonstranten ein, die an eine Neuauflage der Bolotnaja-Prozesse aus 2012 erinnert. Sieben Menschen wurden bereits zu Haftstrafen verurteilt, gegen elf wird noch ermittelt, in sechs Fällen wurde die Anklage fallen gelassen. Gerichte verhängen abschreckend langjährige Strafen.
Die Jugend verliert die Furcht
Die heranwachsende Generation hat dadurch im Vergleich zu den Bolotnaja-Demonstranten nur noch mehr an Respekt gegenüber den Ordnungshütern verloren. Selbstständiger, unabhängiger und furchtloser ist sie geworden.
Dennoch: Wladimir Putin kann nach wie vor auf gute Umfrageergebnisse verweisen: 70 Prozent befürworten die Arbeit des Präsidenten, ermittelte das Lewada-Zentrum, ein unabhängiges Umfrageinstitut. Auch wenn nur noch 24 Prozent Sympathie für ihn hegen, Frauen und ältere Menschen aus der Provinz gehören zu den überzeugtesten Anhängern. Zwar verschreckte die Anhebung des Rentenalters viele Parteigänger im vergangenen Jahr. Putins Popularität hat darunter allerdings kaum gelitten.
Und dann ist da noch die wirtschaftliche Lage. Selbst außenpolitische Erfolge, die sonst zwischendurch für Entspannung sorgten, können dagegen nichts mehr ausrichten. 2018 mussten die Bürger mit 13 Prozent weniger Einkommen ihr Leben bestreiten als 2013.
Wird Wladimir Putin 2024 in Amt und Würden überstehen? Oder sollen Warner recht behalten, die davon ausgehen, dass sich gesellschaftlicher Unmut in den nächsten zwei Jahren Bahn bricht? Den Chef gar aus dem Kreml entfernt?
In der Vergangenheit sind gesellschaftliche Veränderungen in Russland oft unerwartet und über Nacht gekommen. Wie die Revolution 1917 und der Putsch gegen Michail Gorbatschow 1991. Sie sind nicht absehbar. Auch deshalb fürchtet Putin eine zu große Eigenständigkeit seines Volks.