Scholz im Glück
Wie der Bund durch Niedrigzinsen und eine antiquierte Buchführung Milliarden scheffelt
- Negativzinsen für neue Privatkunden sind bei Sparkassen und Volksbanken kein Tabu mehr. Mit der jüngsten Ankündigung der Volksbank Fürstenfeldbruck, Einlagen von Kleinsparern mit sogenannten Verwahrentgelten von minus 0,5 Prozent zu belasten, ist ein Damm gebrochen. Öffentlich will das zwar kein Bankmanager zugeben: Hinter vorgehaltener Hand ist die flächendeckende Einführung von Strafzinsen aber ausgemachte Sache. Lediglich juristische Unwägbarkeiten sorgen dafür, dass viele Geldhäuser noch zögern.
Doch des einen Leid ist des anderen Freud. Während Privatanleger darben, profitiert der Bund in Person von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) ganz erheblich von der verkehrten Zinswelt. Denn die Zinsausgaben des Bundes sind – auch begünstigt durch den Verzicht auf Neuverschuldung (Schwarze Null) – seit Jahren stark rückläufig. Nach Auskunft von Alexandra Beust, Sprecherin der in Frankfurt ansässigen Finanzagentur, die die Kreditaufnahme der Bundesrepublik managt, von über 40 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf deutlich weniger als 20 Milliarden Euro aktuell. „Im Jahr 2018 hatte der Bund Zinsausgaben von unter 17 Milliarden Euro“, sagt Beust der „Schwäbischen Zeitung“.
Milliardenschweres Schmankerl Hinzu kommt ein weiteres milliardenschweres Schmankerl für den deutschen Staatshaushalt: Gewinne, die durch die Aufstockung bereits begebener älterer und damit höher verzinster Staatsanleihen entstehen. „Bis zu sechs Milliarden Euro könnte Finanzminister Scholz dadurch allein in diesem Jahr einnehmen“, prognostiziert Peter Barkow, Gründer des Analysehauses Barkow Consulting in Düsseldorf, der das Thema erstmals auf die Agenda gebracht hat.
Um zu verstehen, wie es dazu kommen kann, muss man etwas tiefer in die Praxis der Schuldenaufnahme des Bundes eintauchen. Deutsche Staatsanleihen – vor allem langlaufende Papiere – werden üblicherweise in mehreren Tranchen an die Käufer gebracht. Das hat damit zu tun, dass Bundesanleihen als Referenzpapiere für den Euroraum ein bestimmtes Mindestvolumen haben müssen, sodass Investoren auch größere Kauf- und Verkaufsaufträge platzieren können, ohne den Kurs nennenswert zu beeinflussen.
„Unsere zehnjährigen Bundesanleihen hatten zuletzt pro Wertpapierkennnummer ein durchschnittliches Emissionsvolumen von 22 Milliarden Euro“, sagt Beust. Das auf einmal zu platzieren würde die Aufnahmefähigkeit des Marktes überfordern. Deshalb werden die einzelnen Bundesanleihen peu à peu auf das Zielvolumen aufgestockt. Das kann sich abhängig vom Marktumfeld, dem Finanzbedarf und dem Risikoappetit der Investoren über mehrere Jahre hinziehen.
Da das Zinsniveau zum Zeitpunkt der einzelnen Aufstockungen deutlich von dem zum Zeitpunkt der erstmaligen Begebung abweichen kann, der Zinskupon aber fix ist, muss der Ausgleich über den Kurs der Anleihe erfolgen. Dabei gilt: Sinkt das Zinsniveau steigt der Kurs – und umgekehrt.
Die Differenz zwischen Erstemissionskurs und dem Kurs zum Zeitpunkt der Aufstockung wird Agio im Fall sinkender Zinsen, beziehungsweise Disagio im Fall steigender Zinsen genannt. In den vergangenen Jahren konnte der Bund bei der Aufstockung von bereits begebenen und höherverzinslichen Anleihen durchweg stattliche Agien realisieren.
Ein Beispiel: Die 2014 emittierte 30-jährige Bundesanleihe mit der internationalen Wertpapierkennnummer DE0001102341 wurde mit einem Zinskupon von 2,5 Prozent aufgelegt. Dieser Zinskupon orientierte sich an der damaligen Marktrendite, um – wie Beust sagt – die Anleihen „zu par“also zu einem Kurs von um die 100 Prozent ausgeben zu können. Seitdem ist das Zinsniveau auf Tauchstation, der Kurs der Anleihe von 100 Prozent auf in der Spitze 180 Prozent (16. August) gestiegen. Anleger
sind also bereit, heute deutlich mehr für die Papiere zu zahlen, um den jährlichen Zinskupon von 2,5 Prozent zu bekommen. Bei der letzten Aufstockung dieser Anleihe am 16. Juni dieses Jahres im Volumen von einer Milliarde Euro zu einem Durchschnittskurs vn 158,8 Prozent konnte der Bund allein aus dem Agio einen Rekordbetrag von 588 Millionen Euro erzielen.
Da im laufenden Jahr die Renditen für Bundesanleihen auf historische Tiefstände gefallen sind – im August rutschten sogar 30-jährige Papiere auf bis zu minus 0,27 Prozent tief in den negativen Bereich – funktioniert diese Arithmetik auch für neu emittierte Anleihen. Denn faktisch können diese, trotz eines Kupons von null Prozent, ebenfalls mit einem Aufgeld emittiert werden. Die am 21. August aufgelegte 30-jährige unverzinsliche Bundesanleihe mit der internationalen Wertpapierkennnummer DE0001102481 beispielsweise wurde zu einem Durchschnittskurs von 103,61 Prozent zugeteilt. Die endfällige Tilgung erfolgt dann im Jahr 2050 aber nur zu 100 Prozent. Bezogen auf das Emissionsvolumen von zwei Milliarden Euro konnte der Bund aus dem Agio Sofortgewinne von 72,2 Millionen Euro erzielen.
Antiquierte Buchführung Paradiesische Zustände also für Olaf Scholz: Schuldenmachen ist auf breiter Front nicht nur umsonst, der Bundesfinanzminister erhält sogar noch eine Prämie obendrauf. Und das Beste daran: Diese Prämien können sofort kassenwirksam vereinnahmt werden. Will heißen, das Geld landet im Bundeshaushalt und kann ausgegeben werden.
Dabei hilft dem Bund ein antiquiertes Verfahren der Buchführung: die Kameralistik. Diese betrachtet – vereinfacht gesagt – nur die Einnahmen und Ausgaben des Bundes im jeweiligen Jahr. Eine Periodenabgrenzung, also eine Aufteilung der AgioGewinne über die Laufzeit, wie es bei Anleihen über 30 Jahre eigentlich sinnvoll wäre und wie es inzwischen die meisten europäischen Staaten machen, gibt es in Deutschland nicht.
„Das vom Bund vereinnahmte Agio nimmt eine Zinsentlastung der Zukunft vorweg“, erklärt Barkow. Will heißen: In den kommenden Jahren sind die vom Bund zu zahlenden Zinsen also höher als sie im aktuellen Zinsumfeld eigentlich wären.
Unter dem Strich dürfte das Finanzministerium in diesem Jahr also bis zu sechs Milliarden Euro allein durch Agien einstreichen. In den Planungen des Bundeshaushalts waren laut Barkow-Chefvolkswirt Wolfgang Schnorr dafür lediglich 500 Millionen Euro eingeplant, sodass für Finanzminister Scholz voraussichtlich rund 5,5 Milliarden Euro „wie Manna vom Himmel fallen“.
Das Problem: Der Mechanismus ist keine Einbahnstraße. Ein drastischer Zinsanstieg würde aus einem Agio ein Disagio – also einen Kursabschlag machen. Das würde dann ebenfalls sofort auf den Staatshaushalt durchschlagen und könnte Finanzminister Scholz mächtig in die Bredouille bringen. Allerdings spricht für ein solches Szenario derzeit nichts. Die Niedrigzinsphase, da sind sich Finanzexperten einig, dürfte uns noch über Jahre erhalten bleiben.