Fliegen unter Ausnahmebedingungen
Auch bei der 68. Vierschanzentournee gilt: Einfach sein „Zeug machen“, ist recht schwierig
„Seit Tagen haben wir ihnen entgegengefiebert, den Vogelmenschen, die am Berg ihre Kräfte messen sollten. Ihre Kräfte? Nein, denn Kraft ist hier nichts: ihre Schwünge, ihre Züge, ihre Weiten, ihren Mut, ihren explosiven Elan, mit dem sie vom Schanzentisch wegschießen, in den grauen Nachmittagshimmel hinein, die seltsame Kraft, mit der sie ein paar Augenblicke lang in der einsamen Höhe – zwischen Himmel und Erde – verweilen, den letzten Schwung ihrer Arme, der die schlanken Leiber durchzuckt und noch weiter hinaustreibt, der Tiefe des Hanges zu; der Klatsch dann, mit dem die Skier am Boden aufsetzen, und das rasende Finale den Hang hinab, den Hang hinauf – bis die Symphonie des Sprunges schließlich in einem eleganten Schwung endet, das ist ihr Metier. Eine Fuge, in der der menschliche Körper wahrhaft ästhetische Momente erreicht wie in keiner anderen Sportart.“
Man kann Skispringen ungleich weniger blumig beschreiben, als es die Festschrift zu zehn Jahren Vierschanzentournee bei ihrem Blick zurück auf die Premiere der Wettkampfreihe Anfang 1953 tat. Und doch hat sich eines nicht geändert seit den Tagen, in denen Sepp „Buwi“Bradl Österreich den ersten Tournee-Gesamtsieg ersprungen hat: die Faszination eines Sports, bei dem sich ein Mensch mit nichts als zwei Brettern unter den Füßen ziemlich rasant eine ziemlich steile Schanze hinunterstürzt. Kein
Datenteppich trägt da, kein Videoanalyse-Tool korrigiert; die Sekunden in der Luft haben etwas zutiefst Archaisches: Der Athlet spürt nur sich, nur den Wind. Und fliegt.
Die Vierschanzentournee ist die verdichtete Form all dessen. Vier Wettbewerbe binnen zehn Tagen, beginnend bei Auflage 68 diesen Samstag in Oberstdorf. Garmisch-Partenkirchen dann, Innsbruck, Bischofshofen schließlich an Dreikönig. Macht – zweimal Training, Qualifikation, Probedurchgang, K.o.-Duell, Finaldurchgang – 24 Sprünge. Heißt: 24-mal Höchstleistung. Heißt: 24-mal die Gelegenheit zu Fehlern, zum Favoritensturz womöglich in letzter Konsequenz, zum Coup des Außenseiters. Fliegen unter Ausnahmebedingungen ...
Auf den Spuren von Erling Kroken Die heute – natürlich – andere sind als am 4. Januar 1953, an dem Erling Kroken das erste Oberstdorf-Springen der ersten „Deutsch-Österreichischen Springertournee“gewann. Bei 66,5 und 69,5 Metern landete der 24-jährige Norweger damals vor 8000 Zuschauern. Die „Schwäbische Zeitung“schrieb von „herrlicher Luftfahrt, völlig ruhig und leicht mit elegantem Aufsprung“; die „Durchführung des Sprunglaufs“auf der erneuerten Schattenbergschanze „bei idealen Schneeverhältnissen und mit 30 Springern am Start in glatt 70 Minuten“lobte ihr Chronist als „beispielhaft für ähnliche Veranstaltungen in Deutschland“.
Daran hat sich nichts geändert in fast 67 Jahren. Längst ausverkauft ist das Auftaktspringen am Sonntag, 25 500 werden erwartet. Bakken und Arena erfuhren – im Vorlauf zur Nordischen Ski-WM 2021 – ein aufwendiges Rundum-Lifting. NaturschneeReste vom Fellhornbahn-Parkplatz sowie im Langlaufstadion Ried allen Plusgraden zum Trotz gefertigter Kunstschnee sichern den Tourneestart; stimmungsvoll ist der bei Flutlicht und Feuerwerk sowieso. „Oberstdorf “, Norwegens Trainer Alex Stöckl spricht für viele, „macht wirklich was Tolles draus, ein Event.“
Die Verpackung stimmt. Und doch ist es das Produkt, das an die vier Schanzen zieht, das die TV-Quoten nach oben treibt: Fliegen ... unter Ausnahmebedingungen. Sven Hannawald gelang dies 2001/2002 gleich an allen Tournee-Orten mit maximalem Ertrag. Legendär das „Ich mach’ mein Zeug“des Wahlschwarzwälders aus Sachsen. Nur: Wie einfach nur „machen“? Wie fokussiert bleiben bei Trubel, Medien-Hype, Schanzenwechseln, Reisestress? Es ist kein Zufall, dass erst die 50. Tournee einen Vierfachsieger hervorgebracht hat, dass der Hannawald’sche Triumph Unikat blieb bis vor zwei Jahren. Dann zog Kamil Stoch kongenial nach (Trainer des Polen war der heutige Bundestrainer Stefan Horngacher), ehe Ryoyu Kobayashi seinen überragenden Winter 2018/19 ebenfalls mit einem Quartett erster Tagesränge krönte. Der Japaner, befand Vorvorgänger Hannawald, sei dabei durchweg „ziemlich nah dran am perfekten Sprung“gewesen.
Zweimal bereits stand Ryoyu Kobayashi auch in der aktuellen Saison ganz oben auf dem Podest; WeltcupFührender ist er. Das kann alles heißen – oder nichts: Die eherne Fußball-Pokal-Floskel von den „eigenen Gesetzen“nämlich ist Tournee-kompatibel. Überaus Tournee-kompatibel. Deshalb: Prognosen verbieten sich, auch mit Springern muss man rechnen, die heuer noch nicht als Erste gejubelt haben. Karl Geiger wäre so einer, Oberstdorfer, Dritter derzeit der Gesamthierarchie, nirgendwo schlechter als Platz sieben. Sein Tournee-Ziel: „Es ist im Skispringen immer ein schmaler Grat zwischen sehr gut und ausgezeichnet. Ich streb’ einfach die ausgezeichneten Sprünge an. Wenn mir da ein paar bei der Tournee rausrutschen können, bin ich mega happy.“Na denn: viel explosiven Elan!