Nord Stream 2 als Test für Europas neue Außenpolitik
Die EU-Kommission strebt ein größeres geopolitisches Gewicht an – Das erfordert Einigkeit und mehr Engagement in Krisenregionen
- Das neue Jahr bringt der europäischen Außenpolitik auf vielen Ebenen einen Neustart. Zum einen hat das Personal gewechselt. Statt der jungen, omnipräsent wirkenden Italienerin Federica Mogherini wird Josep Borrell, ein weißhaariger, präsidial auftretender Spanier, die EU in der Welt vertreten. Die neue Chefin der EU-Kommission hat Großes vor: Ursula von der Leyen will stärker „geopolitisch“agieren, was Kompetenzgerangel mit den Regierungen erwarten lässt. Gleichzeitig verliert die Union am 31. Januar mit Großbritannien einen erfahrenen weltpolitischen Mitspieler mit ständigem Sitz im Weltsicherheitsrat.
Und die Aufgaben wachsen. Die Welthandelsorganisation kommt ihrer Aufgabe als multilaterale Schlichtungsstelle für Konflikte faktisch nicht mehr nach. In den bilateralen Handelsbeziehungen hat Donald Trump den Ton so verschärft, dass viele Kommentatoren bereits Kriegsvokabular bemühen. Für den neuen Außenbeauftragten Borrell ist Handelspolitik daher eine Form der Außenpolitik. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Rest-EU in den Gesprächen mit den USA ihre Einheit so weit bewahren kann, dass die dahinter stehende Marktmacht den Präsidenten mehr beeindruckt als die Freundschaftsbeteuerungen des britischen Premierministers Boris Johnson.
Der Streit um die neue deutschrussische Gaspipeline Nord Stream 2 könnte dafür zum Testfall werden. Viele EU-Staaten lehnen das Projekt ab – aus unterschiedlichen Gründen. Einige fürchten, es mache Europa zu abhängig von russischen Energiequellen. Andere sympathisieren mit der Ukraine, die Transitgebühren für die durch ihr Territorium verlaufenden Leitungen verlieren wird. Sollte sich die EU durch die Sanktionsdrohungen des US-Präsidenten gegeneinander ausspielen lassen, wäre die Taktik Trumps aufgegangen. Denn es ist eine Sache, sich mit der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde anzulegen. Doch für sich genommen ist jeder Mitgliedsstaat nur ein unwichtiges Pünktchen auf der Landkarte.
Will die EU geopolitisch mehr Gewicht erlangen, muss sie sich auch in internationale Konflikte wie den Syrienkrieg stärker einmischen – nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch, weil die Gemeinschaft auf den dadurch sich verstärkenden Flüchtlingsdruck bis heute keine für alle akzeptable Antwort gefunden hat. Die Reform der Asyl- und Migrationspolitik wird für die neue Kommission zum Härtetest werden. Versagt die EU außenpolitisch, hat das Folgen für ihre innere Stabilität.
Nicht zur Spielwiese verkommen Josep Borrell hat gleich zu Amtsbeginn Anfang Dezember in einem Brief an die Außenminister gedrängt, Europa müsse endlich zu einem echten geopolitischen Akteur werden. Andernfalls riskiere es, zur Spielwiese für China, Russland und die USA zu verkommen. Dieser Aussage wird vermutlich weder im Kreis der EU-Regierungen noch aus dem Umfeld Ursula von der Leyens irgendjemand widersprechen. Die Regierungschefs selbst hatten vergangenen Juni ihre strategische Agenda für die Jahre 2019 bis 2024 verabschiedet und darin gefordert, die EU so auszustatten, dass sie „ihre Interessen wahren, ihre Werte und ihre Lebensart aufrecht erhalten und dabei mitwirken kann, die globale Zukunft zu formen.“
Die Frage ist nur, ob ein derartiger Quantensprung innerhalb der bestehenden Strukturen überhaupt möglich ist. Zwar wurde das Amt des Außenbeauftragten im Lissabonvertrag aufgewertet. Ein eigener diplomatischer Dienst wurde ihm zur Seite gestellt. Die Regierungen aber wachten so eifersüchtig über ihre außenpolitische Eigenständigkeit, dass die Reform auf halber Strecke steckenblieb. Die Idee, das Amt gleichermaßen im Rat der Regierungen und in der EUKommission zu verankern, verschaffte ihm nicht mehr Einfluss, sondern sorgte dafür, dass sowohl Catherine Ashton als auch ihre Nachfolgerin Federica Mogherini sich in Koordinationssitzungen zerrieben.
Josep Borrell könnte die Bürde, zwei Herren zu dienen, noch stärker zu spüren bekommen. Ursula von der Leyen möchte bei den wöchentlichen Kollegiumssitzungen stets ein außenpolitisches Thema auf der Tagesordnung und Borrell am Tisch haben. Gesprächsstoff gibt es genug. Ob es darum geht, den Dialog mit Afrika zu festigen, die Balkanstaaten trotz fehlender Beitrittsperspektive an die EU zu binden, die Lage in der Ostukraine zu verbessern oder Iran in die Schranken zu weisen, ohne alle Türen zuzuschlagen – Europa wäre gut beraten, auf der Weltbühne mehr Präsenz zu zeigen. Pflichttermine in Brüssel allerdings helfen dabei wenig.