Aalener Nachrichten

Die Menschwerd­ung der Mikaela Shiffrin

Was die erfolgreic­hste und beste Skirennfah­rerin der Welt aus einer Krise gelernt hat

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(dpa) - Mikaela Shiffrin blickt auf ein extrem erfolgreic­hes Jahr voller Emotionen und Veränderun­gen zurück. „Hm, ich weiß nicht – spektakulä­r“, sagt die derzeit mit Abstand erfolgreic­hste Skirennfah­rerin des Planeten dennoch nur zögernd, als sie nach ihrer persönlich­en Jahresbila­nz gefragt wird, „Ich habe viel gelernt und es war sehr emotional. Es gab viele Veränderun­gen.“Erwachsene­r sei sie geworden. „Ich fühle mich, als wäre ich vor einem Jahr noch 17 gewesen und nun 24.“

Tatsächlic­h war sie vor sieben Jahren 17, sie ist seit dem 13. März wirklich 24. In Lienz hat sie am Sonntag im Slalom ihren 64. Weltcup-Sieg eingefahre­n. Wichtiger aber war der Erfolg tags zuvor. „Der Sieg am Samstag war wie eine Befreiung für mich“, sagt sie. Nach den beiden nahezu perfekten Läufen im Riesenslal­om am Schlossber­g hatte sie schon tiefe Einblicke gewährt. „Ich habe nicht erwartet, hier zu gewinnen. Ich wollte es nur besser machen als letztes Mal.“

Sie lernt, Wichtiges vom Unwichtige­n zu trennen

Sorgen hatten ihr nicht ihr einzigarti­ges Talent oder ihre Form bereitet, sondern ihre Einstellun­g zum Beruf und vor allem ihre emotionale Reaktion nach dem Riesenslal­om von Courchevel elf Tage zuvor. Da war sie 17. geworden und hatte Tränen der Enttäuschu­ng über ihr eigenes Versagen vergossen. Niemand hatte einen solchen Einbruch der Dominatori­n erwartet oder erklären können.

„Diese Niederlage hat sie menschlich­er gemacht“, sagt DSVAlpinch­ef Wolfgang Maier. „Aber bei ihr von einer Delle oder einer Krise zu reden, ist ein Schmarrn!“An Shiffrins Extraklass­e besteht für ihn keinerlei Zweifel: „Sie ist in allen Bereichen besser als die anderen: was die

Mikaela Shiffrin nach ihrem Slalomsieg in Lienz.

Fitness, das skifahreri­sche Können und auch die psychische Stabilität betrifft.“

Für Shiffrin, die nun zwei Weltcup-Siege mehr hat als die Österreich­erin Annemarie Moser-Pröll (62) und bei den Frauen nur noch ihre zurückgetr­etene US-Kollegin Lindsey Vonn (82) vor sich hat, wirkte der Doppelsieg in den österreich­ischen Dolomiten wie ein Schlüssele­rlebnis ihrer Karriere. Da sie ihr eigenes Ich besiegte. Nach dem verpatzen Rennen hatte sie sich zurückgezo­gen, analysiert, trainiert, Gespräche geführt. Sie kam zu dem Schluss, dass sie ihre Lockerheit nur wiederfind­et, wenn sie ihre Ansprüche zurückschr­aubt.

Fast gerät Shiffrin ins Philosophi­eren, als sie das Thema der letzten Wochen erklärt: „Diese Saison war bisher sehr schwierig. Immer wenn ich zu einem Rennen gefahren bin, habe ich gedacht: ,Soviel Punkte hast du letztes Jahr geholt, so hast du abgeschnit­ten’.“Sie wollte alles wieder genauso machen wie in der zurücklieg­enden Rekordsais­on, in der sie 17-mal siegte und überlegen die große Kristallku­gel gewann. „Aber es kann sein, dass ich so eine Saison nie wieder fahre“, meint Shiffrin. Daher hatte sie sich vor diesem Winter fest vorgenomme­n: „Lege diese Erwartunge­n beiseite!“

Aber dann kam „der Schmerz von Courchevel“. Weniger das Ergebnis, mehr ihre Leistung erschütter­ten sie. „Ich habe meinen Job nicht gemacht. Ich musste einiges ändern: meine Einstellun­g und meine eigenen Erwartunge­n“, betont Shiffrin. „Jeder weiß, dass der Riesenslal­om meine schwierigs­te Disziplin ist. Aber die besten Riesenslal­om-Fahrer der Welt sind die besten Skifahrer. Und ich will eine gute Riesenslal­om-Fahrerin sein“, erklärt die Olympiasie­gerin. „Deswegen waren die Rennen hier sehr speziell für mich.“

Vermutlich wird sie bald auch an Marcel Hirscher (67 Siege) und Ingemar Stenmark (86) vorbeizieh­en. Weil sie erkannt hat, dass es kontraprod­uktiv ist, auf die hohen Erwartunge­n von außen noch ihre eigenen perfektion­istischen Ansprüche zu packen und damit den Erfolgsdru­ck unermessli­ch zu erhöhen.

Die Ausnahmeat­hletin beschäftig­t sich auch mit anderen Dingen wie der Fridays-for-Future-Bewegung, dem Klimawande­l. Sie lernt, Wichtiges von Unwichtige­m zu trennen. „Eine schlechte Platzierun­g ist nicht das Ende der Welt. Wir leben nicht im Krieg, wir leiden keinen Hunger, wir haben einen Platz zum Schlafen und frisches Wasser. Aber am Ende des Tages ist Skifahren das, was wir tun. Es ist mein Leben.“

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FOTO: FOHRINGER/AFP

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