Kein Breitband in der Breite
Der Ausbau des schnellen Internets im ländlichen Raum stockt
10. August 2019
G- Internet ist Menschenrecht. Doch als die Vereinten Nationen am 1. Juli 2016 eine entsprechende Resolution verabschiedeten, hatten sie wohl noch nie von Bergatreute (Landkreis Ravensburg) gehört. Dort gibt es zwar Internet – doch nicht jeder der gut 3100 Einwohner der Gemeinde kommt auch in den Genuss einer schnellen Breitbandverbindung. „Es gibt Teilorte, da ist das immer noch jenseits von Gut und Böse“, sagt Helmfried Schäfer, Bürgermeister von Bergatreute. Und das, obwohl die notwendige Infrastruktur an manchen Stellen im Ort sogar doppelt vorhanden ist. Denn nachdem dort von der Telekom keine Hilfe zu erwarten war, ergriff die Gemeinde selbst die Initiative. Über den Zweckverband Breitbandversorgung im Landkreis Ravensburg ließ man Glasfaserkabel verlegen. Dabei arbeitete die Gemeinde mit dem Netzbetreiber Netcom BW zusammen, einer Tochter des Energieversorgers EnBW. Als alles fertig war, kam die Telekom, riss die Straßen wieder auf und verlegte ebenfalls Breitband. „Das ist doch eine Frechheit“, sagt Schäfer.
Ein Knackpunkt: die sogenannte letzte Meile, also die Strecke vom Verteilerkasten zum Haus. Diese wird mit alten Kupferkabeln der Telekom überbrückt. Mit dem sogenannten Vectoring, einer Technologie, für deren Ausbau das Unternehmen zuständig ist, lässt sich die Übertragungsgeschwindigkeit im betagten Kupferkabelnetz dabei auf bis zu 250 MBits pro Sekunde beschleunigen. Nur: Wenn die Telekom ausbaut, kann die Gemeinde die sogenannten Kabelverzweiger nicht selbst nutzen. Kritiker werfen der Telekom daher ein Quasimonopol vor. Denn die Bundesnetzagentur, die als Behörde den Wettbewerb unter anderem im Telekommunikationssektor regelt, hat der Telekom „eine Art Funktionsherrschaft“eingeräumt, wie es der Wissenschaftsjournalist Peter Welchering im Deutschlandfunk nannte. Parallele Anschlüsse von Telekom und anderen Anbietern führten gegenseitig zu Störungen. Durch den Entscheid der Bundesbehörde darf die Telekom die Anschlüsse der Konkurrenz entweder abschalten oder eine Drosselung verlangen. „Das bremst uns aus“, sagt Schäfer. Er spricht von Geldvernichtung. Denn die Gemeinde hat 635 000 Euro (300 000 davon über Zuschüsse) investiert – und steht trotzdem vor einer unbefriedigenden Situation. Wer jetzt meint, die Bergatreuter hätten durch die doppelte Infrastruktur die Wahl zwischen Anbietern, täuscht sich. Dort, wo die Telekom ist, kann die Gemeinde nicht weitermachen. Doch bis der Ausbau durch die Telekom abgeschlossen ist, kann es dauern: „Das kann auch erst in zwei Jahren der Fall sein“, sagt Schäfer. „Sie haben eine Wasserleitung vor der Nase, können sie aber nicht anzapfen“, vergleicht er.
Kritiker werfen der Telekom vor, abgelegene Orte zunächst zu ignorieren – und erst auszubauen, wenn sich eine Konkurrenzsituation abzeichnet. Davon ist vor allem der ländliche Raum betroffen, weil hier ein Ausbau weniger lukrativ ist: weite Wege, weniger Nutzer. „Der ländliche Raum darf nicht abgehängt werden“, warnt Christiane Conzen vom Städtetag BadenWürttemberg. Sie kritisiert, die bisherige Ausbaupraxis der privaten Mobilfunknetzbetreiber sei bisher in erster Linie die gewesen, in wirtschaftlich attraktiven Gegenden aktiv zu werden. Unternehmen sowie Privatpersonen erwarteten aber Bandbreiten ohne Einschränkungen. Dazu müssten die Netzbetreiber ihre Infrastruktur verdichten, virtualisieren und optimieren. „Die bislang voneinander getrennte Festnetz- und Mobilfunkinfrastruktur müssen zu einem großen konvergenten Netz verschmelzen. Glasfaser wird für dieses Netz die zentrale Grundlage sein“, so Conzen.
Der Städtetag hofft, dass es mit höheren Fördergeldern künftig schneller geht: „Die neue Bundesförderung und die darauf angepasste Landesförderung ermöglichen jetzt in Kombination eine Förderung bis zu 90 Prozent. Das sollte jetzt dem Breitbandausbau vor allem im ländlichen Raum noch mal einen richtigen Schub geben.“
Beim Gemeindetag Baden-Württemberg ist man zurückhaltender: „Von einer flächendeckenden Versorgung mit Glasfaser als echter Zukunftstechnologie ist Baden-Württemberg noch weit entfernt“, sagt Pressesprecherin Kristina Fabijancic-Müller. Im bundesdeutschen Vergleich befindet sich das Bundesland demnach auf dem viertletzten Platz, wenn es um die Verfügbarkeit von FTTH (englisch: Fibre To The Home, Glasfaser bis in die Wohnung) und FTTB (Fibre To The Buildung, Glasfaser bis ins Gebäude) geht. Besonders der ländliche Raum sei hier betroffen. Die Kommunen, die dabei häufig die Aufgabe der Telekommunikationsunternehmen erfüllten, stünden vor mehreren Problemen – fehlende Kapazitäten im Tiefbau, Störmanöver von Wettbewerbern und langwierige Förderverfahren etwa.
Die Telekom beruft sich im Fall Bergatreute auf die Vorgaben der Bundesnetzagentur zum Vectoring-Ausbau. Es stehe der Gemeinde oder ihren Netzbetreibern offen, den eigenen Kunden ein Angebot für schnelles Internet zu machen, sagt Pressesprecher Hubertus Kischkewitz – etwa über ein sogenanntes Vorleistungsprodukt, das man bei der Telekom kaufen könne. Vorwürfe, dass das Vorgehen der Telekom den Ausbau bremse, kontert Kischkewitz: „Dieser Vorwurf ist absurd. Wir bauen so viel aus wie kein anderer in Deutschland. Wenn beim Netzausbau jeder unsere Schlagzahl hätte, müsste niemand in Deutschland über Funklöcher und mangelnde Geschwindigkeiten klagen.“
Aber klar sei auch: Alleine könne die Telekom den Ausbau nicht stemmen. Stand Mai 2019 hätten 28 Millionen Haushalte Anschlüsse mit Bandbreiten bis zu 100 Megabit pro Sekunde. Die Telekom argumentiert, dass der Ausbau noch schneller gehen könnte, wenn es nicht zu Verzögerungen durch Genehmigungsverfahren kommen würde. Der Streit um Straßenverteiler und Kabeltrassen endet mitunter sogar vor Gericht. Rund 700 Millionen Euro hat der Konzern im Südwesten 2018 nach eigenen Angaben investiert, unter anderem in den Breitbandausbau. Im Zeitraum von 2018 bis 2021 wolle man in Deutschland über 20 Milliarden Euro investieren.
Aus Stuttgart heißt es, 2018 habe das Land mehr als 100 Millionen Euro in den Breitbandausbau investiert. Das betonte Thomas Strobl (CDU), als Innenminister auch für die Digitalisierung zuständig, Anfang des Jahres. Man mache weiter Tempo. Über 83 Prozent der Haushalte verfügten inzwischen über einen Internetanschluss von mindestens 50 Megabit pro Sekunde.
Doch vielen Kommunen auf dem Land geht der Fortschritt zu langsam voran. Sie nehmen das Heft selbst in die Hand. Vor neun Jahren schlossen sich 13 Gemeinden im Zweckverband Breitbandversorgung im Landkreis Ravensburg zusammen – inzwischen gehören der Interessenvertretung für schnelles Internet 36 Kommunen an, darunter auch Bergatreute. Oliver Spieß, Bürgermeister der Gemeinde Fronreute, ist Vorsitzender des Verbands. Die Gründung zu einer Zeit, in der Apple sein iPhone gerade mal zwei Jahre auf dem Markt hatte, war aus der Not geboren. „Wir haben bereits damals erkannt, dass uns die großen Netzanbieter nicht helfen, sondern dass es nur gemeinsam vorangehen wird“, so Spieß. In Fronreute waren damals 2500 Bewohner vom Netz abgekoppelt.
Spieß ist optimistisch: Wenn die Bundesfördermittel weiter auf dem derzeitigen Niveau von 70 bis 80 Prozent fließen und es einigermaßen gute Kooperationen mit Netzbetreibern gebe, sollte es in rund zehn Jahren geschafft sein, dass jede „Milchkanne“mit Internet versorgt ist. „Vor 110 Jahren haben sie es auch fertiggebracht, den Strom aufs Land zu bringen, dann werden wir es auch schaffen, das Breitband in alle Häuser zu bringen.“
Die Frage nach der Wichtigkeit von Breitbandanbindung ist nicht nur eine, die der Zuschauer beim stockenden Filmstreaming bemerkt. Für Unternehmen in der Region ist schnelles Internet ein wesentlicher Standortfaktor – und zwar nicht nur, weil Bewerber aus urbanen Regionen sich dreimal überlegen, ob der hohe Freizeitwert im Südwesten Kompromisse bei der Internetgeschwindigkeit wettmacht. „Ohne Internet kann man nicht arbeiten“, sagt Peter Jany, Hauptgeschäftsführer der IHK Bodensee-Oberschwaben. „Cloudlösungen, Datenaustausch, Homeoffice – diese digitalen Bestandteile der Arbeitswelt werden gehemmt, wenn die Internetanbindung den Ansprüchen nicht genügt.“
Noch viel entscheidender könne sich eine unzulängliche Breitbandanbindung allerdings bei neuen Geschäftsmodellen auswirken, so etwa bei vernetzten Haushaltsgeräten oder Maschinen – Stichwort „Internet der Dinge“. Software-Updates könnten durch zu schlechte Leitungen nicht aufgespielt werden, zudem geht es um Datenmodelle und Datenstandards, die Verschlüsselung, mit der global agierende Unternehmen arbeiten: „Wer die Norm hat, hat den Markt. Wenn deutsche, darunter auch unsere regionalen Unternehmen dabei nicht mitreden, schreiten die Entwicklungen ohne uns voran.“Bei den Defiziten in ländlichen Regionen kämen unterschiedliche Faktoren zusammen, von den historisch gewachsenen Telekommunikationsnetzen und dem Problem der „letzten Meile“bis hin zu fehlenden Kapazitäten im Tiefbau. „Der Dringlichkeit und der Rasanz der Weiterentwicklung wurde lange Zeit nicht genügend Rechnung getragen.“
Dass mittelfristig kein Weg am flächendeckenden Glasfasernetz vorbeiführt, ist für Bergatreutes Bürgermeister klar: „ Die Menschen produzieren und konsumieren heute ganz andere Datenmengen.“Schäfers Vergleich ist anschaulich: „Dafür braucht man ein großes Rohr – aber momentan haben wir nur einen kleinen Gartenschlauch.“