Von Menschen und Bestien
Eine junge Jesidin erzählt von ihrer IS-Gefangenschaft
11. November 2019
G- Im Fernsehen würde an dieser Stelle die Warnung eingeblendet: „Die folgende Sendung ist für Zuschauer unter 18 Jahren nicht geeignet.“Denn in dieser Geschichte geht es um tausendfachen Mord, um Menschenraub, um Missbrauch in jeder Form und um Abgründe, in die niemand blicken will, weil sie den Glauben an die Menschheit erschüttern. Doch Sara Murad ist es ein Anliegen, dass ihre Geschichte erzählt wird. Sie will, dass die Menschen in Deutschland und überall auf der Welt erfahren, was den Jesidinnen, die von den Terroristen des „Islamischen Staates“(IS) jahrelang gefangen gehalten wurden, widerfahren ist. Sie hofft auf mehr Verständnis für die Frauen und deren Familien, die von dem allgegenwärtigen Leid völlig überfordert sind. 7000 Frauen wurden verschleppt, als der IS über die Dörfer im Shingal-Gebiet herfiel, 3000 von ihnen sind laut Yazda, einer jesidischen Organisation, immer noch in Gefangenschaft.
Sara Murad hätte gerne ihr Gesicht gezeigt und ihren richtigen Namen genannt. Doch das könnte sie in Gefahr bringen – zumal Hunderte IS-Anhänger wegen der türkischen Offensive in Syrien aus Gefangenenlagern geflohen sind. Sie hat Gewalt erlebt und gesehen – und nicht alle Täter sind tot. Sara Murad hat von ihren 23 Lebensjahren rund viereinhalb Jahre in ISGefangenschaft verbracht.
Wir lernen die Frau im Zuge der Recherchen für unsere Weihnachtsspendenaktion „Helfen bringt Freude“in der Provinzhauptstadt Dohuk kennen: Sara Murad ist mit ihrer fünfjährigen Tochter zu Besuch bei der Familie ihres Schwagers. Dort findet auch das Treffen statt. Das kleine Mädchen kommt immer wieder ins Zimmer, setzt sich dazu und spielt mit Sachen, die elektronisches Geklimper von sich geben. Ob sie wohl versteht, was ihre Mutter berichtet? Hoffentlich nicht. Doch dieses aufgeweckte und sanftmütig wirkende Kind war dabei, als ihre Mama von den IS-Kämpfern und deren Frauen geschlagen wurde. Das Leben des Mädchens begann sogar in der Geiselhaft. Jetzt ist ein Flüchtlingscamp in der Nähe von Dohuk sein neues Zuhause. Dort hat die Kleine vor fast sieben Monaten die Überlebenden ihrer jesidischen Familie kennengelernt: die Großmutter mütterlicherseits, die Tanten und die Onkel. Viereinhalb Jahre nach ihrer Geburt in der syrischen Stadt Rakka. Sara Murad ist 18 Jahre alt, als am 3. August 2014 ihr erstes Leben endet. An diesem Tag fällt die IS-Terrormiliz schwer bewaffnet in die Dörfer des ShingalGebietes ein. Die kurdischen PeschmergaKämpfer, die die Jesiden beschützen sollten, verlassen Hals über Kopf ihre Stellungen. Deshalb sind die Jesiden, die zwar als gute Gärtner und Landwirte bekannt sind, aber nicht als wehrhafte Kämpfer, dem IS hilflos ausgeliefert. Hunderttausende fliehen vor dem IS, verlieren ihr Hab und Gut. Tausende ihr Leben. Jesidische Männer und Jungen, aber auch Frauen ermorden die Terroristen sofort. Mehr als 70 Massengräber wurden inzwischen entdeckt.
Auch Sara Murad wird an diesem Tag in ihrem Heimatdorf Kocho zur Witwe. Sie ist schwanger, doch darauf nehmen die Dschihadisten keine Rücksicht. „Die Frauen wurden in einer Schule eingesperrt“, erzählt sie. „Dann nahmen die IS-Leute uns mit.“Vom ShingalGebiet werden die Jesidinnen nach Zwischenstopps in ein Haus in der Gegend von Tal Afar an der syrischen Grenze verschleppt. Dort fahren jeden Freitag Busse vor und bringen einige Frauen und Kinder weg. Wohin, weiß Sara Murad nicht. Nach etwa einem Monat ist sie selbst an der Reihe, inzwischen hochschwanger. „Wir haben zehn Stunden lang nichts zu essen und zu trinken bekommen“, erinnert sie sich. Die Fahrt endet in Rakka. Drei Tage später bringt sie dort im Krankenhaus ihre Tochter zur Welt. Das Kind ist gesund, doch die Mutter so panisch, dass sie keine Milch hat, um die Kleine zu füttern. „Mein Baby hatte einen Tag lang gar nichts zu essen, dann nur schlechte Ersatzmilch“, sagt Sara Murad mit brüchiger Stimme. Vier Tage nach der Geburt wird sie mit ihrer neugeborenen Tochter an einen anderen Ort gebracht. Die Fahrt dauert dieses Mal sechs Stunden. Die junge Mutter sitzt in ihrem Blut, sie musste nach der Niederkunft genäht werden, doch die Naht hat nicht gehalten. Und wieder hat sie keine Milch für ihr Kind. Doch all das ist erst die Vorstufe ihres eigentlichen Martyriums, das nun beginnen sollte.
„In den viereinhalb Jahren meiner IS-Gefangenschaft war kein einziger Mensch freundlich zu mir“, sagt die 23-Jährige auf die Frage, ob es innerhalb des sogenannten Kalifats auch eine Art von einfacher Mitmenschlichkeit gegeben habe. Alle seien schlecht mit ihr umgegangen – die Männer, die sie gekauft und hundertfach vergewaltigt haben, aber auch deren Frauen. Von ihnen sei sie wie Abschaum behandelt worden. „Sie nannten mich Dienerin, machten mir nur Vorwürfe und griffen mich sogar an, weil ihre Männer sich an mir vergingen“, sagt Sara Murad. „Ausgelacht haben sie mich sowieso wegen meines Glaubens und meiner Herkunft.“Die Folgen spürt sie bis heute: Sie leidet an Schmerzen und Entzündungen, sie wird immer wieder ohnmächtig. Und sie hat so wenig Vertrauen in Menschen außerhalb ihrer Familie, dass sie sich bislang weder einem Arzt noch einem Therapeuten anvertraut hat.
Dreimal wird die junge Frau an IS-Kämpfer verkauft. Sie vergewaltigen sie, so oft und wann sie wollen – denn sie soll ihnen Nachkommen gebären. Gleichzeitig wird ihr die eigene Tochter immer wieder entzogen. Sie darf nicht bei ihr schlafen, ihr wird verboten, mit dem Kind Kurdisch zu sprechen. „Und sie wollten meine Tochter nach ihrer Religion erziehen“, sagt Sara Murad. Als sie zum ersten Mal von ihrem Peiniger, einem wichtigen IS-Mann, schwanger wird und einen Sohn bekommt, muss sie ihn direkt nach der Geburt abgeben. „Seine Frau sagte zu mir, ,das ist jetzt mein Sohn, du hast nichts mit ihm zu tun'.“Erst als der Vater des
Kindes bei einem Luftangriff getötet wird, will die IS-Frau den Kleinen loshaben und gibt ihn der Mutter zurück. Sara Murad wird auch von dem zweiten Vergewaltiger schwanger. Dieses Kind verliert sie nach drei Monaten, als er wieder über sie herfällt. Und auch der dritte ISMann, an den sie weiterverkauft wird, schwängert die junge Jesidin. „Jedes Mal, wenn er von den Kämpfen gegen die syrischen Kurden zurückkam, hat er mich vergewaltigt.“Doch die militärische Übermacht des IS bröckelt, die sogenannten Gotteskrieger sind inzwischen selbst auf der Flucht vor der Anti-IS-Koalition und den kurdischen Kämpfern in Syrien. Für Sara Murad eine absurde Situation: Einerseits wünscht sie sich die Niederlage des IS, andererseits leben sie und ihre Kinder in der ständigen Gefahr, dabei selbst getötet zu werden. Kollateralschaden nennen das Militärangehörige. „Wir mussten ständig den Ort wechseln, draußen im Regen schlafen, es gab für meine Kinder und mich nichts zu essen“, erinnert sich Sara Murad. „Und jedes Mal, wenn kurdische Einheiten in der Nähe waren, haben sie mir einen Sprengstoffgürtel umgebunden, damit ich mich und die Kämpfer töte, wenn sie näherkommen sollten.“Ihre kleine Tochter, ihre einzige Verbindung zu ihrem früheren Leben, wird in dieser Zeit so schwer krank, dass Sara Murad um ihr Leben fürchtet. Für ein Lösegeld von 100 Dollar, bezahlt von ihrem Bruder, überlässt sie der ISMann, bei dem sie zuletzt gelebt hat, schließlich der PKK. Der Terrorist wird gefangen genommen. Noch in Syrien bringt sie ihren zweiten Sohn zur Welt, als sie in den Nordirak zurückkehrt, lässt sie beide Jungen zurück.
Sara Murad spricht schneller, je länger das Gespräch dauert – die Übersetzerin hat Mühe mitzukommen. Gleichzeitig wirkt die 23-Jährige seltsam gefasst. Sie weint nicht, sie klagt nicht, sie wird nicht laut. Sie redet einfach nur hastig – und manchmal glänzen ihre Augen feucht. Offensichtlich hat sie es gelernt, ihren Schmerz herunterzuschlucken. Und so klingt es auch sehr beherrscht, als die junge Frau erklärt, warum sie sich von ihren Söhnen getrennt hat. „Ich hätte es meiner Familie nicht zumuten können, die Söhne von Vätern zu akzeptieren, die so viele Mitglieder unserer Familie getötet haben“, sagt Sara Murad. Zudem habe der Hohe Jesidische Geistliche Rat entschieden, verschleppte Frauen nur dann wieder in der jesidischen Gemeinschaft aufzunehmen, wenn sie sich von ihren Kindern aus IS-Gefangenschaft trennen. Sara Murad scheint mit dieser Entscheidung leben zu können. „Ich hätte es ohnehin nie vergessen, dass diese Kinder aus einer Vergewaltigung hervorgingen. Natürlich hatte ich eine innige Beziehung zu meinem dreieinhalbjährigen Sohn, ich habe ihn im Krieg beschützt. Aber es ging nicht anders.“Nach den Rechtsvorschriften im Irak wären ihre beiden Kinder als Muslime registriert worden, weil die Väter Muslime waren. Auch das ist ein Grund, warum sich die jesidische Gemeinschaft mit diesen Kindern so schwertut.
Sara Murad weiß nicht, was aus ihren beiden Söhnen geworden ist. Sie will es wohl auch nicht wissen. Sie will abschließen mit dieser Zeit des unermesslichen Leids. Für sich selbst sieht die 23-Jährige wenig Chancen auf eine gute Zukunft. Sie würde zwar gerne weiter zur Schule gehen und studieren, aber das ist wohl nicht möglich. Auch die Chancen eine Arbeit zu finden, stehen schlecht in einem Land, in einer Region, in der offiziell ein Fünftel der Bevölkerung arbeitslos ist. Sara Murad hofft, wenn sie überhaupt etwas hofft, darauf, dass es ihre Tochter eines Tages besser haben wird. Dass es ihrer Familie gelingen wird, das Flüchtlingscamp zu verlassen und ein Haus zu beziehen, in dem es Strom gibt und jeder seinen Platz hat. Eines will Sara Murad allerdings auf keinen Fall: in ihre Heimat, das Shingal-Gebiet zurückkehren. „Da will ich nie wieder hin. Das ist der Ort, an dem alles Furchtbare begann.“