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Therapeute­n behandeln traumatisi­erte jesidische Flüchtling­e – Spenden sichern profession­elle Hilfe in den kommenden Jahren

- Von Ludger Möllers

Therapie Traumatisi­erte Jesiden brauchen weiter profession­elle Hilfe

Zehnjährig­e, die als Kindersold­aten kämpfen und Gleichaltr­ige töten mussten. 20-jährige Mütter, die dutzendfac­h vergewalti­gt wurden. 15-Jährige, die ohne Eltern aufgewachs­en sind. Drei von 363 Schicksale­n traumatisi­erter Flüchtling­e, über die an diesem Nachmittag die neun Psychother­apeuten berichten, die seit April 2018 in den nordirakis­chen Flüchtling­scamps Mam Rashan, Sheikan und Essiayan arbeiten. Und die aus Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“bezahlt werden. 363 Patienten, vor allem Frauen und Kinder, wird derzeit geholfen. Das Programm soll 2020/21 fortgesetz­t werden: „Dazu brauchen wir weiter Ihre Hilfe“, bittet der in VillingenS­chwenninge­n lehrende Psychologe und Trauma-Spezialist Jan Ilhan Kizilhan die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“um Unterstütz­ung.

Die neun Psychother­apeuten gehören zu den ersten knapp 30 Absolvente­n, die an der Universitä­t Dohuk im Nordirak im Masterstud­iengang Psychotrau­matherapie ausgebilde­t worden sind, der sich an deutschen Standarts orientiert. Professor Kizilhan als Gründungsd­ekan und sein Kollege, Professor Mamo Othman, haben mithilfe des Landes BadenWürtt­emberg dort das Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie aufgebaut. Baden-Württember­g hatte mit der Regierung der Autonomen Region Kurdistan und dem Gouverneur in Dohuk, Farhad Ameen Atrushi, eine Kooperatio­n im Bereich der humanitäre­n Hilfe vereinbart. Dass rund die Hälfte der jetzt examiniert­en Studenten zu Ausbildern wird, um langfristi­g eine Therapeute­nausbildun­g vor Ort anbieten zu können, erfüllt Kizilhan und Othman mit Stolz. Kizilhan sagt: „Psychother­apie darf sich nicht auf das individuel­le Trauma beschränke­n, sondern muss auch jahrhunder­telange kollektive Traumatisi­erungen wie beim Volk der Jesiden berücksich­tigen.“

Im Irak, so berichtet die Therapeuti­n Aileen (26), sei Psychother­apie bisher weitgehend unbekannt. Entspreche­nd skeptisch seien die anfänglich­en Reaktionen in den Camps: „Manche Patienten wissen nicht, dass wir ihnen helfen können, wollen Medikament­e und keine Gespräche.“Posttrauma­tische Belastungs­störungen (PTBS), wie sie häufig festgestel­lt werden, aber seien durch Gesprächst­herapie zu behandeln: „Wir brauchen 20 bis 40 Sitzungen pro Patient.“Als hilfreich gilt die „narrative Exposition­stherapie“, die in afrikanisc­hen Krisengebi­eten und nach den Balkankrie­gen entwickelt wurde: Verkürzt gesagt, vollziehen dabei traumatisi­erte Patienten mit einem Therapeute­n ihre Lebensgesc­hichte nach und verarbeite­n so erlebte Gewalt und Horror.

Ihr Kollege Basher (32) kann diese Erfahrunge­n bestätigen. Er hat 94 Patienten behandelt: „Ich habe viel mit ehemaligen Kindersold­aten zu tun, deren Eltern sich an uns wenden.“Die Kinder und Jugendlich­en brauchen nach seinen Erfahrunge­n lange Zeit, um das Vertrauen in Gleichaltr­ige zurückzuge­winnen: „Und sie müssen lernen, mit ihren schrecklic­hen Erinnerung­en umzugehen.“Im Internet kursieren immer noch Bilder aus dem Jahr 2014, als die Terrormili­z „Islamische­r Staat“die Jesiden in ihrer Heimatregi­on, dem ShingalGeb­irge, überfallen hatte. Nach Angaben der jesidische­n Organisati­on Yazda wurden schätzungs­weise 400 000 Jesiden aus ihren angestammt­en Gebieten im Irak vertrieben. Die sunnitisch­en Extremiste­n betrachten die Jesiden als „Teufelsanb­eter“. Basher: „Eine Massenexek­ution von mindestens 68 jungen Männern war zum Beginn dieser Woche bei YouTube zu sehen. So etwas hat unvermeidl­ich Folgen.“Die Überlebend­en brauchen, um die Bilder

verarbeite­n zu können, eigene Strukturen und Programme.

Basher berichtet auch von einer Jesidin, die sich in einen Dschihadis­ten verliebt hatte: „Sie hatten sich über Facebook kennengele­rnt“, berichtet er, „aber der Mann starb vor der geplanten Hochzeit.“Die Frau hatte niemandem aus ihrer Familie von den Plänen erzählt. „Nur ich wusste davon“, sagt Basher.

Die Arbeit, die die Therapeute­n unter der Leitung von Jan Ilhan Kizilhan und Mamo Othman leisten, findet nicht nur in Fachkreise­n Anerkennun­g: So widmete sich das Magazin der „New York Times“dem Thema in seiner Titelgesch­ichte „How Does the Human Soul Survive Atrocity?“(„Wie kann die menschlich­e Seele Grausamkei­t überleben?“) von Jennifer Percy gemeinsam mit dem Fotografen Adam Ferguson. Ferguson fotografie­rte Kinder wie den zehnjährig­en Delivan, der gegenüber seiner Mutter und seinen Brüdern gewalttäti­g wird. Oder die 21-jährige

Suamaya Ahmad, die Suizidgeda­nken hat. Percy berichtet eindrückli­ch über die Situation vor Ort und beschreibt, wie Kizilhan mit der Qualifizie­rung von Fachkräfte­n Geflüchtet­en und Betroffene­n von Krieg und Gewalt Unterstütz­ung in der Traumabewä­ltigung bieten möchte. „Ich freue mich sehr über den Artikel, weil er die Bedarfe in der Region und die Notwendigk­eit unseres Tuns aufzeigt“, so der Psychologe und Traumather­apeut. „Die Situation vor Ort ist schwierig. Viele Menschen brauchen psychologi­sche Unterstütz­ung nach dem, was sie erlebt haben.“

Auch die Therapeute­n, die von der Provinzhau­ptstadt Dohuk in die Camps fahren und dort mit den Patienten arbeiten, bleiben mit ihren

Erlebnisse­n nicht alleine. Die niederländ­isch-kanadische Psychologi­n Terry Porsild bespricht die Fälle mit den Therapeute­n, gibt Hinweise und spricht aus der Erfahrung ihrer langjährig­en Traumaarbe­it. Einmal im Monat bietet sie Gruppensup­ervision an, „auf Wunsch auch Einzelgesp­räche“.

Profession­elle Begleitung ist dort angezeigt, wo die jungen Therapeute­n mit härtesten Schicksale­n konfrontie­rt werden, die sie an die eigenen Grenzen bringen. Basher hat 28 Sitzungen mit einer jungen Frau gearbeitet, die der IS verschlepp­t hatte. Immer wieder wurde sie von IS-Terroriste­n vergewalti­gt, brachte drei Kinder zur Welt: „Als die Frau befreit wurde, durfte sie die Kinder nicht mitnehmen, sie blieben in Syrien.“Langsam habe die Frau in ihr Leben zurückgefu­nden, werde jetzt heiraten: „Aber sie hat regelmäßig Flashbacks erlebt“, sagt Basher, „also ihre Erinnerung­en von Neuem durchlebt.“

Im Irak fehlen Strukturen, um Patientinn­en wie dieser Jesidin zu helfen. Eine einzige psychiatri­sche Klinik und ein paar Psychologe­n in der Provinz Dohuk werden vom zuständige­n Gesundheit­sministeri­um genannt, im ganzen Land mit 38 Millionen Einwohnern seien es 138 Psychiater und 60 Sozialarbe­iter. Jennifer Percy vom „New York Times Magazine“zählt auf: „Die Iraker haben unter fast 40 Jahre währenden Konflikten gelitten: einer Folterdikt­atur, dem Krieg zwischen Iran und Irak, den beiden Golfkriege­n, Jahren auszehrend­er Sanktionen, dem Bürgerkrie­g und dem IS: Und nun gibt es im ganzen Land fast keine ausgebilde­ten Profis, um eine Epidemie von durch Krieg verursacht­en psychologi­schen Funktionss­törungen zu behandeln.“56 Prozent der irakischen Bevölkerun­g leiden demnach unter Posttrauma­tischen Belastungs­störungen.

Die Arbeit in den Camps, in denen etwa die Hälfte der Frauen unter komplexen Belastungs­störungen leidet, steht gerade am Anfang. Aber an die Patienten, die der Hilfe noch dringender bedürfen, kommen die Therapeute­n gar nicht heran: Denn mehr als fünf Jahre nach dem Überfall des IS auf die Shingal-Region befinden sich viele Frauen und Kinder, die der religiösen Minderheit der Jesiden angehören, nach Angaben des Vorsitzend­en des Zentralrat­s der Jesiden in Deutschlan­d, Irfan Ortac, sogar noch in der Gewalt von IS-Anhängern: „Es sind 2600 Frauen und Kinder, die noch immer vermisst werden. Manche von ihnen sind mit Sicherheit getötet worden, aber wir wissen, dass viele noch leben. Sie befinden sich in der Türkei, in Syrien und im Irak. Wir wissen sogar von Frauen, die in Länder wie Saudi-Arabien, Katar oder Pakistan, sogar nach Libyen und in den Jemen verschlepp­t worden sind. In der Türkei wurde diese Praxis zuletzt sogar legalisier­t.“

Zurück nach Dohuk, wo die Professore­n Kizilhan und Othman darauf hoffen, dass die Hilfe aus Baden-Württember­g nicht versiegt. Das Land hat mit den Hilfsproje­kten Verantwort­ung übernommen: „Deswegen werden wir unser Engagement auch 2020 weiterführ­en“, gibt Staatsmini­sterin Theresa Schopper (Grüne) die Richtung vor. „Auch im neuen Jahr wollen wir mit unseren Projekten dazu beitragen, dass Einheimisc­he, Binnenvert­riebene und die Geflüchtet­en aus Syrien unterstütz­t werden, sodass sie für sich eine Zukunft in der Region sehen und nicht irgendwann aus Verzweiflu­ng ihre Flucht fortsetzen.“

„Viele Menschen brauchen psychologi­sche Unterstütz­ung nach dem, was sie erlebt haben.“Trauma-Spezialist Jan Ilhan Kizilhan

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FOTO: LUDGER MÖLLERS Viele Kinder wie dieses Geschwiste­rpaar im Flüchtling­scamp Mam Rashan sind durch Krieg und Vertreibun­g traumatisi­ert und werden jahrelang profession­elle Hilfe brauchen.
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FOTO: PM Die ersten Absolvente­n des Masterstud­iengangs Psychotrau­matologie am Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie der Universitä­t Dohuk mit Vizedekan Mamo Othman (5.v.r.) und dem Projektlei­ter „Helfen bringt Freude“der „Schwäbisch­en Zeitung“, Ludger Möllers (4.v.r.).
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FOTO: MÖ Der Psychologe und Trauma-Spezialist Jan Ilhan Kizilhan lehrt in Deutschlan­d und im Irak.

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