Krankenschwester leugnet Tat in Ulm
Fünf Säuglinge in der Universitätsklinik Ulm überleben nur knapp – Eine Spritze mit Muttermilch und Morphium soll die Frühchen in Lebensgefahr gebracht haben
(AFP) - Die Verdächtige im Fall von fünf mit Morphium vergifteten Frühgeborenen in der Ulmer Uniklinik bestreitet den Vorwurf des versuchten Totschlags. Wie Sprecher von Polizei und Staatsanwaltschaft am Donnerstag sagten, befindet sich die Krankenschwester dennoch seit Mittwoch in Untersuchungshaft. Laut aktuellem Ermittlungsstand gebe es keine Hinweise auf weitere Vergiftungsfälle auf der Neugeborenenstation. Die Ermittlungen stünden noch am Anfang.
- Die Erschütterung, die Anstrengung und auch die menschliche Enttäuschung der vergangenen vier Wochen sind Ortraud Beringer, Oberärztin in der Klinik für Kinderund Jugendmedizin der Universitätsklinik Ulm, an diesem Donnerstag deutlich anzusehen. Vor 50 Journalisten und acht Kamerateams berichtet sie über die dramatischen Ereignisse des 20. Dezember 2019. Jenen Freitag vor Weihnachten, in dessen Morgenstunden – so lautet der dringende Tatverdacht – eine Krankenschwester auf der Überwachungsstation fünf Frühgeborenen ohne jede medizinische Notwendigkeit das starke Schmerzmittel Morphium verabreicht, auf diese Weise schwere Atemprobleme bei den Säuglingen ausgelöst und sie damit in Lebensgefahr gebracht haben soll. „Drei oder vier Stunden haben wir mit dem ganzen Team, 14 Kolleginnen und Kollegen, um das Leben der fünf Frühchen gekämpft“, berichtet Beringer. Und gewonnen.
Seit dem 17. Januar versucht nun eine 35-köpfige Ermittlungsgruppe der Kriminalpolizei, Ablauf, Hintergrund und Motive der rätselhaften Tat zu klären. Die tatverdächtige Krankenschwester bestreitet die Tat, sitzt aber seit Mittwoch in Untersuchungshaft, nachdem der Haftrichter wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Totschlags in fünf Fällen Haftbefehl erlassen hatte. Im Spind der Frau in der Klinik auf dem Ulmer Michelsberg hatten Ermittler eine Spritze entdeckt. Der Inhalt: Muttermilch mit Morphium vermischt.
Fünf kranke Frühchen, eine Spritze mit Morphium und ein schrecklicher Verdacht: Einen Tag nach den ersten Informationen berichten Staatsanwaltschaft, Polizei und die Uniklinik Ulm über Einzelheiten des Falls. „Wir sind alle tief erschüttert“, beschreibt Professor Klaus-Michael Debatin, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Ulm, die Stimmung: „Wir müssen davon ausgehen, dass an unserer Klinik mit krimineller Energie ein Verbrechen verübt wurde.“Die einzigen positiven Nachrichten, die Debatin verkünden kann: Laut aktuellem Ermittlungsstand gebe es keine Hinweise auf weitere Vergiftungsfälle auf der Neugeborenenstation. Und nach ärztlicher Einschätzung wird das Morphium für die Kinder folgenlos bleiben.
Fest steht, dass an jenem Freitag vor Weihnachten fünf Frühgeborene im Alter zwischen einem Tag und einem Monat nahezu zeitgleich an lebensbedrohlichen Atemproblemen leiden. Die Säuglinge liegen gemeinsam in einem Zimmer in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Ulm. In dieser Nacht haben vier Schwestern und zwei Ärztinnen Dienst. „Es ist völlig ungewöhnlich, dass zeitgleich fünf Kinder Atemprobleme bekommen“, erklärt Debatin.
Was dann passiert, muss die Polizei jetzt minutengenau rekonstruieren. An jenem Morgen werden alle verfügbaren Kräfte zusammengerufen und retten die fünf Säuglinge, von denen drei intubiert, also künstlich beatmet, werden müssen. Die Frühchen werden auf die Intensivstation verlegt. Ob die jetzt tatverdächtige Schwester sich bei der Rettung beteiligte, ist derzeit eine Frage, die die Ermittler nicht beantworten können oder wollen: „Auch hier rekonstruieren wir den Ablauf“, sagt der Leiter der Staatsanwaltschaft Ulm, Christof Lehr. Es sollte 48 Stunden dauern, bis die Säuglinge wieder selbstständig atmen und nach Hause entlassen werden können.
Nachdem die Universitätsklinik zunächst als Ursache Viren vermutet, ergeben sich schnell Zweifel. Eine Infektion? Krankenhauskeime? Der Wille zur Aufklärung dieser Zweifel ist stark. Dass es die Kinderklinik nicht darauf beruhen ließ, wertet Professor Udo X. Kaisers, der Leitende Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende des Universitätsklinikums, als Beweis dafür, wie gewissenhaft sich seine Mitarbeiter für das Wohl der Patienten einsetzen. „Wir haben uns nicht zufriedengegeben mit den naheliegenden Lösungen“, sagt er am Donnerstag bei einer Pressekonferenz des Klinikums, wenige Stunden nach der Erklärung der Ermittlungsbehörden. Und Professor Klaus-Michael Debatin berichtet: „Am 22. Dezember haben wir Urinproben der Kinder an die Rechtsmedizin gegeben.“
Am 15. Januar kommt das alarmierende Ergebnis: Den Säuglingen ist ein Betäubungsmittel verabreicht worden: Morphium. Warum sich die Untersuchungen über drei Wochen hinziehen, bleibt bisher unklar. An dieses Medikament, räumt Kinderklinik-Chef Debatin ein, habe man gar nicht gedacht. Die Verantwortlichen fürchteten eher eine Schadstoffbelastung, zum Beispiel durch die Klimaanlage, und wollten die Ursache ausfindig machen.
Klaus-Michael Debatin, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Ulm
Am 16. Januar wird an der Uniklinik eine Taskforce eingerichtet. Denn drei der fünf Babys hatten im Rahmen der medizinischen Notfallversorgung vor dem 20. Dezember zwar Morphium bekommen. Aber: Zwei der Kinder war zuvor das Schmerzmittel gar nicht verabreicht worden. Also muss jemand den Frühchen Morphium verabreicht haben – und zwar in der zehnfachen Dosis des Zulässigen, wie Debatin sagt. Mit dem Verdacht auf eine Straftat erstattet die Universitätsklinik Ulm am 17. Januar Anzeige gegen unbekannt. Unter den Mitarbeitern spricht sich nach Informationen der „Schwäbischen Zeitung“die Tat herum, nach außen aber dringt nichts. „Wir können den Tatzeitraum auf wenige Minuten
bis wenige Stunden vor der Tat eingrenzen“, sagt der Leiter der Staatsanwaltschaft Ulm, Christof Lehr. Das starke Schmerzmittel Morphium, das in hoher Dosierung das Atemzentrum lähmt, könne oral, also durch den Mund, oder intravenös verabreicht werden: „Da aber kein Kind an eine Infusion angeschlossen war, muss den fünf Säuglingen das Morphium bei der Fütterung oral gegeben worden sein.“
Offensichtlich war es für die Verdächtige kein Problem, an das in einem Tresor auf der Neonatologie des Universitätsklinikums gelagerte Morphium zu gelangen. „Morphium wird zur Behandlung der Frühchen benötigt, wenn beispielsweise die Mutter drogenabhängig ist“, erklärt
Lehr. Die tatverdächtige Krankenschwester wusste, wo der Schlüssel lag: „Sie gehörte ja zum Team“, sagt der Ärztliche Direktor Debatin. Ein Vier-Augen-Prinzip bei der Entnahme von Opiaten gab und gibt es im Ulmer Klinikum nicht. Es gibt ein Betäubungsmittelbuch, in dem die Entnahmen dokumentiert werden. Derzeit werde ermittelt, ob es Fehlbestände gebe. Staatsanwalt Lehr sagt: „Und wir haben einen ersten Verdacht, dass dies der Fall sein könnte.“
Am 27. Januar, also am Montag dieser Woche, vernehmen die Ermittler die vier Schwestern und die beiden Ärztinnen, die in der fraglichen Nacht Dienst hatten: „Alle sechs Mitarbeiter des Uniklinikums haben ausgesagt, alle bestreiten, etwas mit dem Vorfall zu tun zu haben“, berichtet Lehr. Aber in der Umkleide werden die Ermittler bei einer Durchsuchungsaktion am Dienstag dieser Woche fündig: „Wir haben im Spind einer Krankenschwester, die in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember auf der Neonatologie Dienst hatte, eine Spritze mit Muttermilch und Morphium gefunden“, sagt Lehr, „und diese Spritze hatte dort definitiv nichts zu suchen.“Daraufhin wird die Frau vorläufig festgenommen und am Mittwoch dem Haftrichter vorgeführt. Aktuell gebe es DNAUntersuchungen, um bestimmen zu können, welcher Mutter die Muttermilch in der Spritze zuzuordnen ist.
Doch was könnte die Krankenschwester dazu getrieben haben, wehrlose Säuglinge mit Morphium in eine lebensbedrohliche Situation zu bringen und womöglich deren Tod billigend in Kauf zu nehmen? Ein Motiv sei bislang nicht bekannt, heißt es. Zur Identität der Schwester, die in Anwesenheit ihres Anwalts aussagt, die Tat aber bestreitet, wollen sich die Ermittler nicht äußern. Nur so viel: „Es handelt sich um eine junge Frau.“Auch die Möglichkeit, dass ein Fremder der Frau die Spritze mit Muttermilch und Morphium in den Spind gelegt haben könnte, um eine falsche Spur zu legen und den Verdacht auf die Frau zu lenken, werde geprüft, versichert Lehr.
„Wir gehen davon aus, dass Fluchtgefahr besteht und auch die Schwere der Tat gegeben ist“, begründet Peter Staudenmaier, Oberstaatsanwalt und Leiter der Ermittlungsgruppe, die Haftgründe: „Aktuell gehen wir davon aus, dass die Krankenschwester die Spritze mit dem Morphin dort abgelegt hat. Das reicht uns aktuell für den dringenden Tatverdacht aus.“Auch ein psychologisches Gutachten werde eingeholt.
In der Ulmer Uniklinik betreibt Professor Udo X. Kaisers, der Leitende Ärztliche Direktor, inzwischen Schadensbegrenzung: „Ich möchte allen versichern, dass wir hart daran arbeiten werden, verloren gegangenes Vertrauen der Menschen und der Stadt wiederzuerlangen“, sagt er am Donnerstag vor Journalisten. Er entschuldigt sich im Namen des gesamten Klinikums bei den Eltern, den Kindern und den Familien. Die Eltern habe er persönlich angerufen, berichtet Professor Debatin: „Und sie waren erleichtert, wenigstens eine Erklärung dafür zu bekommen, warum ihre Kinder so krank waren.“
Auch die Aufklärungsarbeit auf dem Ulmer Michelsberg steht am Anfang: „Wir haben Fallanalysen ähnlicher Fälle vorgenommen“, erläutert Professor Kaisers, „Stand heute gab es keine Parallelen.“Und Professor Debatin, der Chef der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, ergänzt: „Wir haben die anderen Kinder auf Morphium untersucht, aber nichts gefunden.“Weitere Untersuchungen aber seien noch nicht abgeschlossen.
„Wir müssen davon ausgehen, dass an unserer Klinik mit krimineller Energie ein Verbrechen verübt wurde.“