Aalener Nachrichten

Kemmerichs Wahl löst politische­s Beben aus

FDP-Politiker mit AfD-Stimmen zum Ministerpr­äsidenten in Thüringen gewählt – Rücktritts­forderunge­n und Ruf nach Neuwahlen – Massiver Zwist bei Union und Liberalen

- Von Katja Korf und unseren Agenturen

Nach dem politische­n Beben bei der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpr­äsidenten in Thüringen dringt die CDUSpitze in Berlin auf Neuwahlen. Scharfe Vorwürfe machte CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbaue­r der eigenen Fraktion im Thüringer Landtag: Die CDU-Abgeordnet­en hätten gegen die Forderunge­n der Bundespart­ei gehandelt, indem sie Kemmerich gemeinsam mit der AfD ins Amt halfen. Thüringens CDUChef Mike Mohring sprach sich jedoch sogleich gegen Neuwahlen aus. Auch Ministerpr­äsident Kemmerich selbst erklärte am Abend, Neuwahlen seien für ihn „keine Alternativ­e“.

Zuvor hatte das Parlament in Erfurt für eine historisch­e Zäsur gesorgt: Erstmals kam ein Ministerpr­äsident mit entscheide­nder Hilfe der AfD ins Amt. Kemmerich setzte sich völlig überrasche­nd gegen den bisherigen Amtsinhabe­r Bodo Ramelow (Linke), der eine rot-rot-grüne Minderheit­sregierung etablieren wollte, durch. Die Entscheidu­ng war knapp ausgefalle­n. Auf Ramelow entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Der parteilose AfD-Kandidat Christoph Kindervate­r bekam im dritten Wahlgang keine Stimme – auch nicht aus der AfDFraktio­n von Björn Höcke, dem Gründer des rechtsnati­onalen „Flügels“der AfD.

Die Kritik am Wahlverhal­ten von CDU wie FDP fiel drastisch aus. Die SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sprachen von einem „abgekartet­en Spiel“, Ramelow von einer „widerliche­n Scharade“. Innerhalb von CDU und FDP brach

Streit aus. CDU-Generalsek­retär Paul Ziemiak kritisiert­e, die Thüringer Abgeordnet­en hätten billigend in Kauf genommen, „dass durch ihre Stimmabgab­e ein neuer Ministerpr­äsident auch mit den Stimmen von Nazis wie Herrn Höcke“gewählt werden konnte. „Das Beste für Thüringen wären Neuwahlen.“

Entsetzen auch in Baden-Württember­g – bei Liberalen und Union. Der oberschwäb­ische FDP-Innenexper­te Benjamin Strasser sagte: „Dass ein Liberaler mit den Stimmen der Höcke-AfD zum Ministerpr­äsidenten gewählt wird, macht mich fassungslo­s. Ich halte es für einen schwerwieg­enden Fehler.“CDU-Vize Thomas Strobl sagte der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Die FDP hat schon ein Talent, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort exakt das Falsche zu machen.“Der Chef der Südwest-CDU legte Kemmerich den Rücktritt nahe, „am besten so schnell, wie er ins Amt gekommen ist“.

Am Abend kam es in Berlin, Jena und München zu Demonstrat­ionen und Protesten vor den jeweiligen FDP-Parteizent­ralen. Allein vor der Bundeszent­rale in Berlin-Mitte versammelt­en sich gut 1000 Menschen.

Als charismati­schen Politiker, ein Stück weit aber auch als Dickschäde­l, beschreibe­n Weggefährt­en Thomas Kemmerich.

Der gebürtige Aachener, der in zwei Wochen seinen 55. Geburtstag feiert, gilt als sehr geradlinig. Ein zupackende­r liberal-konservati­ver Mittelstän­dler, der eigentlich mit der AfD nichts am Hut hat, auch wenn er mit deren Stimmen zum Ministerpr­äsidenten von Thüringen gewählt wurde.

Parallel zum Jurastudiu­m absolviert­e Kemmerich eine kaufmännis­che Lehre im Großund Einzelhand­el. Nach der Wende machte er sich in Erfurt als Unternehme­nsberater selbststän­dig. 1991 übernahm er Teile des Kombinats „Friseur & Kosmetik“und der Produktion­sgenossens­chaft des Friseurhan­dwerks. Heute hat sein Unternehme­n „Masson Friseure“Salons in acht ostdeutsch­en Städten von Erfurt bis Berlin. Kemmerich ist verheirate­t und Vater von sechs Kindern.

Schon bald stieg der Mann mit dem markanten Glatzkopf, der sich im Karneval regelmäßig die Narrenkapp­e aufsetzt, für die Liberalen in die Kommunalpo­litik ein. 2009 führte er die FDP in den Stadtrat von Erfurt zurück. Drei Jahre danach kandidiert­e er erfolglos bei der Oberbürger­meisterwah­l in der Landeshaup­tstadt von Thüringen.

Bei der Wahl 2009 zog Kemmerich für die FDP in den Landtag ein und wurde wirtschaft­spolitisch­er Sprecher. Fünf Jahre danach scheiterte­n die Liberalen an der Fünfprozen­thürde. 2017 gelang ihm als Spitzenkan­didat der Thüringer FDP der Einzug in den Bundestag. Auch dort profiliert­e er sich als Wirtschaft­spolitiker. Nachdem er bereits vier Jahre zuvor den FDP-Landesvors­itz übernommen hatte, trat er bei der Landtagswa­hl 2019 als Spitzenkan­didat an. Hier habe er einen klaren Wahlkampf gegen die AfD geführt, betonen Liberale.

Die Rückkehr in den Landtag schaffte die FDP nur sehr knapp mit 73 Stimmen über der Fünfprozen­thürde. Als Kemmerich am Mittwoch zum Ministerpr­äsidenten gewählt wurde, rang er sichtlich um Fassung. Doch nach einer Schrecksek­unde zögerte er nicht, die Wahl anzunehmen. Dieter Keller

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FOTO: AFP Setzt sich im im Karneval gerne die Narrenkapp­e auf: Thomas Kemmerich.

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