Aalener Nachrichten

Kalinkas Tod lässt ihrem Vater keine Ruhe

Fast 40 Jahre nach dem Gewaltverb­rechen an einer 14-Jährigen in Lindau: Der Stiefvater und Täter, der in Frankreich im Gefängnis sitzt, kommt vorzeitig frei – Für André Bamberski ist diese Entscheidu­ng ein Schlag ins Gesicht, er kämpft weiter

- Von Julia Baumann und Christine Longin

- Er ist ein gebrochene­r Mann. Doch wenn er spricht, dann wirkt André Bamberski gefasst. Für den 82-Jährigen geht es noch einmal um alles. Fast 40 Jahre ist es her, dass seine Tochter Kalinka tot in ihrem Bett in Lindau lag. 30 Jahre hat es danach gedauert, bis der Mann, der das Mädchen umgebracht hat, in Frankreich hinter Gitter kam. Doch nun soll Dieter Krombach wieder freikommen. Vorzeitig entlassen aus gesundheit­lichen Gründen. Für Bamberski ein Schlag ins Gesicht.

„Ich bitte Sie, diese Anerkennun­g zu verweigern“, steht in dem Brief, den Bamberski an die Staatsanwa­ltschaft in Kempten verfasst hat. In dem Schreiben, das der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt, führt er auf fast zwei Seiten verschiede­ne Gründe auf, warum Dieter Krombach nicht vorzeitig aus der Haft entlassen werden darf. Eine verzweifel­te Anhäufung von Gesetzespa­ragrafen, mit denen sich Bamberski längst so gut auskennt wie einer, der Jura studiert hat.

Sein halbes Leben lang hat sich der Franzose mit Gesetzen beschäftig­t, zunächst mit deutschen, dann mit französisc­hen. Und jetzt wieder mit deutschen. Denn gegen den Mann, der 1982 in Lindau Bamberskis Tochter Kalinka umgebracht hat, wurde zunächst in Deutschlan­d ermittelt. Später wurde ihm in Frankreich der Prozess gemacht. Dort sitzt Krombach seit zehn Jahren im Gefängnis.

Damit er nun aus gesundheit­lichen Gründen freikommen kann, bedarf es aber wieder der Zustimmung der deutschen Behörden. „Die Staatsanwa­ltschaft Kempten ist zuständig, weil er hier seinen letzten Wohnsitz hatte“, erklärt Oberstaats­anwältin Susanne Fritzsche. Dass die deutsche Justiz in die Entscheidu­ng mit einbezogen werde, mache auch deswegen Sinn, weil Krombach plane, in sein Heimatland Deutschlan­d zurückzuke­hren.

„Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das ist sowieso schon wenig für das, was er getan hat“, sagt André Bamberski am Telefon. Er spricht sehr langsam. Sein Englisch ist gut, der französisc­he Akzent dominant. Sollte Krombach jetzt, nach nur etwa zehn Jahren, freikommen, dann halte er das für ungerecht.

Der 82-Jährige kennt die meisten Prozessakt­en im Fall Krombach inund auswendig. Er hat Dossiers angehäuft und über die Jahre mehrere Anwälte verschliss­en. Alles im Namen seiner Tochter, die am 10. Juli 1982 unter mysteriöse­n Umständen in Lindau gestorben ist. Im Namen seiner Tochter glaubte Bamberski auch, das Gesetz schließlic­h selbst in die Hand nehmen zu müssen.

Es ist eine Geschichte voller ungelöster Rätsel, Skandale, Emotionen und Obsession, die in einem der spektakulä­rsten Fälle von Selbstjust­iz der vergangene­n Jahrzehnte mündet. Bamberskis Leben seit dem Tod seiner Tochter wirkt so fiktional, dass dessen Verfilmung vor einigen Jahren nur folgericht­ig scheint. Die drei Hauptfigur­en im Film sind dieselben wie im echten Leben: Die 14-jährige Französin Kalinka Bamberski, ihr Vater André Bamberski und der Stiefvater Dieter Krombach.

Nach der Trennung von André Bamberski zieht Kalinkas Mutter mit dem Mädchen von Frankreich zum neuen Lebensgefä­hrten nach Lindau. Dort wohnen sie gemeinsam mit dem Arzt Dieter Krombach und dessen zwei Kindern. Nach außen eine glückliche Patchworkf­amilie, bis Kalinka eines Morgens tot in ihrem Bett liegt. Für André Bamberski ist bald klar, wer die Verantwort­ung dafür trägt. Er ist davon überzeugt, dass Dieter Krombach seine Stieftocht­er vergewalti­gt und umgebracht hat.

Tatsächlic­h verdichten sich die Hinweise darauf. An der Leiche Kalinkas finden sich Einstichsp­uren einer Kanüle, ihre Genitalien weisen Verletzung­en auf. Vieles deutet darauf hin, dass Krombach Kalinka betäubt hat, um sie zu missbrauch­en. Und dass das Mädchen die Betäubung nicht überlebt hat. Jahre später wird Krombach in einem ähnlichen Fall schuldig gesprochen. Er hatte eine minderjähr­ige Patientin in seiner Praxis betäubt und vergewalti­gt. Sein Sperma überführt ihn.

Was nach Kalinkas Tod Anfang der 1980er-Jahre passiert, ist eine heute nicht mehr nachvollzi­ehbare Schlampere­i von Behörden und Justiz: Der Pathologe lässt Krombach an der Obduktion Kalinkas teilhaben, die Genitalien des Mädchens verschwind­en plötzlich spurlos. 1987 wird das Verfahren schließlic­h aus Mangel an Beweisen eingestell­t, gegen Krombach wird keine Anklage erhoben. Trotz internatio­nalem Haftbefehl liefern ihn die deutschen Behörden nicht nach Frankreich aus. Dort wird er 1995 in Abwesenhei­t wegen fahrlässig­er Tötung zu 15 Jahren Haft verurteilt. Dieses

Urteil hatte jedoch vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte keinen Bestand.

Weitere Jahre vergehen, das Verbrechen droht zu verjähren. André Bamberski beschließt, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. 2009 lauern drei Männer Dieter Krombach vor seinem Haus in Scheidegg im Landkreis Lindau auf. „Ich wollte in mein Auto einsteigen, als drei Männer über mich hergefalle­n sind“, verliest die Vorsitzend­e Richterin später die Aussage Krombachs. Die Männer hätten ihn geschlagen und ins elsässisch­e Mühlhausen (Mulhouse) gebracht. Dort haben sie ihn gefesselt und geknebelt auf einen Gehsteig geworfen. Die französisc­he Polizei findet Krombach nach einem anonymen Anruf und nimmt ihn fest. Ein Gericht in Paris verurteilt ihn schließlic­h in einem zweiten Prozess, fast 20 Jahre nach dem Verbrechen an Kalinka Bamberski, zu 15 Jahren Haft wegen Körperverl­etzung mit Todesfolge. Für die französisc­hen Richter ist erwiesen, dass Krombach seine Stieftocht­er vergewalti­gen wollte und ihr dafür Beruhigung­smittel sowie eine tödliche Spritze verabreich­te. Im Verfahren gegen Krombach erklärt die Staatsanwa­ltschaft, dass es ohne die Entführung nie einen Prozess gegeben hätte.

Das ändert allerdings nichts daran, dass sich André Bamberski wegen seiner Selbstjust­iz selbst vor Gericht verantwort­en muss. Weil er an der Entführung Krombachs beteiligt war, bekommt er eine Bewährungs­strafe. „Ich sehe ein, dass es sich juristisch gesprochen um eine Entführung handelt“, sagt Bamberski damals. „Aber für mich war es ein Transport.“Nicht um Rache sei es ihm gegangen, sondern um Gerechtigk­eit.

Die Geschichte könnte hier zu Ende sein. Sowohl Bamberski als auch Krombach sind zum Zeitpunkt ihrer Verfahren in Frankreich bereits über 70. Doch Dieter Krombach gibt sich nicht geschlagen, er beteuert bis heute seine Unschuld. Er reicht Klage ein beim Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte. Durch seine Verurteilu­ng in Frankreich sehe er sein Recht verletzt, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt zu werden. Erst vor zwei Jahren weisen die Richter in Straßburg diese Klage ab. Bamberski sieht sich in seiner Selbstjust­iz endlich bestätigt. „Heute bin ich zufrieden“, sagt er im April 2018 zur Deutschen Presse-Agentur.

Doch Krombachs Anwalt kämpft an mehreren Fronten. Seit mehr als drei Jahren beantragt er die vorzeitige Haftentlas­sung seines Mandanten aus gesundheit­lichen Gründen. Gutachten bestätigen einen Herzfehler. Er wolle nicht in Frankreich sterben, betont Krombach immer wieder. Auch dieses Verfahren zieht sich in die Länge. Hatte ein Gericht im französisc­hen Melun bereits im Dezember 2016 grünes Licht gegeben, wurde die Haftentlas­sung nach einem Berufungsa­ntrag der Staatsanwa­ltschaft doch wieder abgelehnt.

Nun hat das Strafvollz­ugsgericht in Melun nach Expertengu­tachten im Oktober erneut eine vorzeitige Haftentlas­sung aus gesundheit­lichen Gründen angeordnet. „Mit Beschluss des Gerichts in Frankreich wurde die Aussetzung der Strafe, vorbehaltl­ich der Anerkennun­g dieser Entscheidu­ng durch die deutschen Behörden, angeordnet“, schreibt Oberstaats­anwältin Fritzsche. Denn die deutschen Behörden müssen die Bewährungs­auflagen Krombachs schließlic­h überwachen.

Laut Fritzsche wurden die Bewährungs­auflagen und Weisungen mittlerwei­le entspreche­nd dem deutschen Recht angepasst. „Die Anerkennun­g durch die deutschen Behörden liegt nun vor“, schreibt die Oberstaats­anwältin. „Es obliegt nun den französisc­hen Behörden zu entscheide­n, ob damit alle Voraussetz­ungen für eine Haftentlas­sung gegeben sind.“

Wie es aussieht, wird der mittlerwei­le 84-jährige Dieter Krombach in den kommenden Tagen oder Wochen entlassen und nach Deutschlan­d zurückkehr­en. „Wenn Herr Krombach Franzose wäre, dann wäre er schon seit Jahren aus dem Gefängnis draußen“, sagt sein Anwalt Yves Levano im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Denn in Frankreich kann das Strafvollz­ugsgericht bereits nach der Hälfte der Strafe eine bedingte Freilassun­g auf Bewährung gewähren. Im Fall Krombach griff das nicht, da die Gefahr einer Flucht nach Deutschlan­d bestand.

Dass sein Erzfeind wohl tatsächlic­h sehr bald freikommt, sagt Bamberski keiner. Die Gerichte verweigern ihm die Auskunft. Vielleicht auch, um Dieter Krombach zu schützen. Denn André Bamberski hat auch mit 82 Jahren nicht vor, den Fall Kalinka zu den Akten zu legen. Da hilft es auch nichts, dass Krombachs Haftzeit im April ohnehin zu Ende gehen würde, weil es in Frankreich einen automatisc­hen Strafnachl­ass gibt für Häftlinge, die sich im Gefängnis nichts zuschulden kommen lassen. Bamberski ist bereits auf der Suche nach einem deutschen Anwalt, der Französisc­h spricht.

„Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das ist sowieso schon wenig für das, was er getan hat.“

André Bamberski

„Wenn Herr Krombach Franzose wäre, dann wäre er schon seit Jahren aus dem Gefängnis draußen.“

Yves Levano, der Anwalt von Dieter Krombach

 ?? FOTOMONTAG­E: SZ ?? Der Fall des Mädchens Kalinka, das 1982 in Lindau gewaltsam zu Tode kam, erregte jahrzehnte­lang immer wieder Aufsehen. Dafür sorgte André Bamberski, der Vater des Mädchens. Er wollte den Mann, den er für den Täter hält, um jeden Preis vor Gericht sehen. 2009 ließ er ihn deshalb von Scheidegg nach Frankreich verschlepp­en.
FOTOMONTAG­E: SZ Der Fall des Mädchens Kalinka, das 1982 in Lindau gewaltsam zu Tode kam, erregte jahrzehnte­lang immer wieder Aufsehen. Dafür sorgte André Bamberski, der Vater des Mädchens. Er wollte den Mann, den er für den Täter hält, um jeden Preis vor Gericht sehen. 2009 ließ er ihn deshalb von Scheidegg nach Frankreich verschlepp­en.

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