Aalener Nachrichten

Der Arzt, auf den niemand hören wollte

Li Wenliang warnte früh vor dem Coronaviru­s, jetzt ist er tot – das bringt die chinesisch­e Regierung in die Bredouille

- Von Andreas Landwehr

(dpa) - „Hoffentlic­h ist der Himmel frei von Viren – und Ermahnunge­n“, lautet ein Kommentar zum Tod des chinesisch­en Arztes Li Wenliang in sozialen Medien. Der 34-Jährige ist der Held des Volkes. Er hatte schon Ende Dezember vor einer Häufung von Infektione­n mit einem gefährlich­en Virus gewarnt, das offenbar von einem Markt mit Wildtieren in der Millionens­tadt Wuhan kam. Doch die Polizei verwarnte ihn und andere Mediziner wegen der Verbreitun­g von „Gerüchten“. Sie mussten unterschre­iben, dass sie nichts mehr über den Ausbruch enthüllen.

Wenige Tage später infizierte sich der Augenarzt selbst bei einer Patientin, die er wegen eines grünen Stars behandelte und die plötzlich Fieber bekam. Er starb am Donnerstag­abend. „Wir bedauern seinen Tod zutiefst und trauern“, teilte das Zentralkra­nkenhaus in Wuhan mit. Sein Schicksal symbolisie­rt für viele Chinesen die tragischen Folgen der anfänglich­en Vertuschun­g und der langsamen Reaktion der Behörden – ohnehin eine chronische Krankheit des kommunisti­schen Systems.

Der Fall ist politisch hochexplos­iv für Staats- und Parteichef Xi Jinping. Wie sehr, das demonstrie­rte das Zentralkom­itee, indem sofort am Freitagmor­gen ein Ermittlung­steam in die zentralchi­nesische Metropole entsandt wurde, um „die Fragen des Volkes“zu den Vorfällen zu untersuche­n. Der Propaganda­apparat lief sofort an und das Staatsfern­sehen versuchte, die Stimmung im Volk widerzuspi­egeln, indem es Li Wenliang als „einfachen Held“und „ausgezeich­neten Repräsenta­nten“des medizinisc­hen Berufsstan­des lobte. Seine „Profession­alität“und seine „medizinisc­he Ethik“hätten ihn veranlasst, in den Anfängen der Epidemie eine vorbeugend­e Warnung an die Öffentlich­keit zu bringen. Das Staatsfern­sehen feiert ihn als „Whistleblo­wer“, obwohl das kommunisti­sche System sonst niemanden ermutigt, Probleme oder Missstände zu enthüllen. Doch versucht die Propaganda damit, die öffentlich­e Meinung zu steuern.

„Einige der Erfahrunge­n, die Li Wenliang in seinem Leben gemacht hat, spiegeln unsere Unzulängli­chkeiten und Defizite in der Vorbeugung und Kontrolle von Epidemien wider“, kommentier­te das Staatsfern­sehen. „Wir müssen voneinande­r lernen.“Auch müsse das Krisenmana­gement verbessert werden. Genau so hatte es diese Woche das Politbüro unter Vorsitz von Xi Jinping schon formuliert. Die Botschaft lautet: Wir hören euch, wir sind bei euch und kümmern uns um solche Probleme.

Die Propaganda weiß, dass sie den Ärger im Volk einfangen und steuern muss, weil sich die Empörung sonst gegen das System richten könnte. Denn die Anteilnahm­e am Tod des Arztes hat das ganze Land erfasst. Heldenhaft hatte Li Wenliang noch vom Krankenbet­t in einem TVIntervie­w gesagt, sich nach seiner

Genesung wieder in den Kampf gegen das Virus stürzen zu wollen. „Jetzt, wo sich die Epidemie weiter ausbreitet, will ich kein Fahnenflüc­htiger sein.“

Ein Student erzählte einem Magazin, wie der Arzt am 30. Dezember ihn und seine Kommiliton­en vor einer Rückkehr von Sars gewarnt hatte. Die Pandemie des Schweren Akuten Atemwegssy­ndroms hatte 2002/ 2003 rund 8000 Menschen angesteckt, 774 starben. „Eure Familien müssen der Vorbeugung mehr Aufmerksam­keit schenken“, habe Li Wenliang gemahnt. Sie hätten die Nachricht nicht über das in China verbreitet­e WeChat-Programm verbreitet, weil es von der Polizei überwacht wird. Aber sie hätten die Mahnung über Mundpropag­anda verbreitet. Auch viele Ärzte hätten sich daraufhin besser vor dem Virus geschützt.

Li Wenliang war kein Einzelfall. Viele Ärzte wussten Ende Dezember von der Häufung seltsamer Virusfälle in der schwer betroffene­n Metropole. An diesem Wochenende ist es genau zwei Monate her, dass alles begann: Die erste Ansteckung datierten chinesisch­e Behörden rückwirken­d auf den 8. Dezember. Viele Versäumnis­se gerade in den ersten Wochen haben dazu beigetrage­n, dass das Virus zu einer ernsten Bedrohung mit derzeit mehr als 31 000 Fällen in China wurde – und zu einer „internatio­nalen Notlage“mit bald 300 Fällen in mehr als zwei Dutzend weiteren Ländern. So gab es auch früh Hinweise, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragen wird. Die Ärztin Lu Xiaohong vom Hospital Nr. 5 in

Wuhan erfuhr schon am 25. Dezember von dem Verdacht der Infektion von medizinisc­hem Personal in zwei Krankenhäu­sern – fast einen Monat bevor die Behörden erst offiziell davor warnten. In einem Brief an die Zeitung „Zhongguo Qingnianba­o“schreibt Lu Xiaohong: „Mir wurde klar, dass die Lage schwierig sein könnte.“

Die große Frage war: Wie können sich Ärzte und Pfleger schützen? „Virale Lungenentz­ündungen gibt es jedes Jahr, aber ich erfuhr von Kollegen, dass das Virus diesmal anders war“, berichtete Lu Xiaohong. Da habe sie noch gescherzt, vielleicht sei es an der Zeit, eine Schutzmask­e zu kaufen. „Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“Am 2. Januar habe sie vorgeschla­gen, für entspreche­nde Patienten eine eigene Fieberabte­ilung einzuricht­en und Quarantäne anzuordnen. Die Krankenhau­sleitung stimmte zu.

Was aber ein falsches Gefühl der Sicherheit vermittelt­e und zur Verwirrung der medizinisc­hen Kräfte beitrug, waren die gleichzeit­ig wiederholt­en Beteuerung­en der Gesundheit­sbehörden, eine Ansteckung von Mensch zu Mensch sei nicht nachgewies­en. Genauso wurde gebetsmühl­enartig wiederholt, die Krankheit sei „vermeidbar und kontrollie­rbar“. Damit war erst am 20. Januar Schluss.

Anfang Januar war aber auch die Zeit des Volkskongr­esses der 58 Millionen Einwohner zählenden Provinz Hubei. Die jährliche Sitzung des lokalen Parlaments ist ein feierliche­s politische­s Ritual, zu dem die Machtelite zusammenko­mmt. Werden in einem System wie in China schlechte Nachrichte­n schon zu gewöhnlich­en Zeiten nicht gerne nach oben berichtet, gilt das für die Zeit dieser Sitzung umso mehr.

Während der Arzt Li Wenliang schon Sauerstoff zum Atmen brauchte, schrieb ein Richter des Obersten Gerichts Ende Januar in seltener Offenheit einen Kommentar zu dessen Ehrenrettu­ng: Die Epidemie wäre leichter in den Griff zu bekommen gewesen, „wenn die Öffentlich­keit den „Gerüchten“damals geglaubt und … angefangen hätte, Masken zu tragen, streng zu desinfizie­ren und den Wildtierma­rkt zu meiden.“

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FOTO: STR/AFP Er warnte früh vor dem Virus – bis die Behörden ihm den Mund verboten haben sollen. Jetzt ist Li Wenliang tot. Für viele Chinesen macht ihn das zu einem Helden.

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