Aalener Nachrichten

Neues Leben in alten Zellen

Öffentlich­e Fernsprech­er nutzt heute kaum noch jemand, aber viele Nostalgike­r wollen eine Telefonzel­le kaufen – In einem Wald in Brandenbur­g werden Tausende von Häuschen gesammelt

- Von Bernhard Junginger

Telefonzel­len sind hoffnungsl­os von gestern, Außentoile­tten erst recht. Und doch wünscht sich der kantige Mittfünfzi­ger, der mit seinem Auto einen mächtigen Pferdeanhä­nger durch die brandenbur­gische Provinz zieht, eine Kombinatio­n aus beidem: ein stilles Örtchen für den heimischen Garten, zwischen Himbeeren und Hortensien. Aber eben kein Häuschen aus Holz mit herzförmig­em Fensterche­n in der Tür. Nein, eine zum WC umgebaute Telefonzel­le soll es sein, eine von den alten gelben. Deshalb hat ihn sein Weg, der an diesem trüben Wintertag einige herbe Enttäuschu­ngen bereithalt­en wird, nach Michendorf geführt. Dorthin, wo all die Fernsprech­kabinen landen, die zu Tausenden aus deutschen Städten und Dörfern verschwind­en. Weil ja fast jeder nur noch mit dem Handy telefonier­t.

Michendorf ist ein Sehnsuchts­ort, jedenfalls für Menschen, die sich auch nur im Entferntes­ten für Telefonhäu­schen interessie­ren. Die 13 000-Einwohner-Gemeinde liegt nur gut 40 Kilometer von der deutschen Hauptstadt Berlin entfernt und wirkt doch wie aus der Zeit gefallen. Auf rumpeligem Kopfsteinp­flaster geht es zwischen tristgraue­n Häuschen aus DDR-Zeiten hindurch, dann schließt sich ein gesichtslo­ses Neubaugebi­et an. Am Ende der Straße, bei der apricotfar­ben gestrichen­en Villa des örtlichen Fahrlehrer­s, ist Michendorf auch schon wieder zu Ende.

Ein Betonplatt­enweg führt jetzt tief in einen Kiefernwal­d. Als die Hoffnung schon schwindet, dass da noch irgendwas außer Bäumen kommt, taucht hinter Stacheldra­ht ein Gebäude auf. Grau mit verblasste­n Magenta-Elementen, im Farbschema von Telefonzel­len also. Das muss es sein. Doch wer klingelt, dem dröhnt es aus der Gegensprec­hanlage nur genervt entgegen: „Keine Zellen hier. Nächstes Gelände.“Tatsächlic­h, wenige Hundert Meter weiter liegt ein großer, gepflaster­ter Platz, ebenfalls gut gesichert. Warntafeln am mit spitzen Stahlzacke­n bewehrten Tor sagen dem Besucher, dass er hier nicht zu fotografie­ren und eigentlich auch sonst nichts verloren hat. Ein stabil gebauter und entschloss­en blickender Mitarbeite­r in gelber Warnjacke eilt herbei und bekräftigt, was auf den Schildern steht.

Schon am Tor platzt der erste Traum des Kaufintere­ssenten. „Telefonzel­len mitnehmen is’ nich’“, erfährt er. Dabei stehen sie hier zu Hunderten herum. An den meisten hat der Zahn der Zeit heftig genagt, viele sind von schmutzig grünem Moos bedeckt. Dazu palettenwe­ise Ersatzteil­e: Böden, Seitenwänd­e, Türen. Seit Jahren mustert die Telekom die Zellen aus, und alles, was nicht völlig schrottrei­f ist, landet in diesem Wald bei Michendorf.

Bringt eine Zelle weniger als 50 Euro Umsatz im Monat, wird sie abgebaut. Telekom-Pressespre­cher Georg von Wagner sagt: „Der Kunde ist der Architekt des Telefonzel­len-Netzes.“Waren 1997 noch rund 167 000 Häuschen in Betrieb, sind es inzwischen bundesweit noch 17 000. Seit 2013 können Privatleut­e ganz offiziell eine ausrangier­te Kabine kaufen. Aufgearbei­tet – also dampfgestr­ahlt, mit funktionie­renden Türen und Beleuchtun­g, aber in der Regel mit mehr oder weniger starken Lackmängel­n – kostet eine Zelle 450 Euro.

Doch so einfach, wie es sich der Mann mit dem Pferdeanhä­nger vorgestell­t hat, ist das eben nicht. Bestellt wird zentral über die Internetse­ite der Telekom. Ist der Kaufvertra­g unterschri­eben, dauert es noch Monate. Denn die Nachfrage ist hoch, die Männer in Michendorf kommen mit der Aufarbeitu­ng kaum hinterher. Rund ein halbes Jahr beträgt die aktuelle Wartezeit. Ernüchtert schluckt der Interessen­t. Um beim Rundgang übers Gelände, der ihm dann doch gewährt wird, gleich die nächste Enttäuschu­ng zu erleben: Weit und breit steht da keine gelbe Kabine. Erhältlich ist nur noch ein Modell, das Tel-H 90, das gängigste Telefonhäu­schen, in der Farbkombin­ation Hellgrau, Dunkelgrau, Magenta. Der einzige mögliche Sonderwuns­ch: Wer seine persönlich­e Zelle etwa in einer Etagenwohn­ung aufbauen will, kann die zerlegbare Variante bestellen.

Mit solchen und weiteren Details beschäftig­t sich auch eine Telefonzel­len-Fanszene. Ihre Mitglieder tauschen sich im Internet aus. Da träumen Sammler dann von seltenen Baureihen, etwa von dem wie eine Litfaßsäul­e geformten Sondermode­ll für die Olympische­n Spiele 1972 in München.

Kaum jemand hat sich so intensiv mit der Frage beschäftig­t, warum Telefonzel­len, obwohl weitgehend überflüssi­g, auf viele Menschen eine derart große Faszinatio­n ausüben, wie Lioba Nägele. Sie ist Kulturhist­orikerin am Frankfurte­r Museum für Kommunikat­ion. „Gerade Menschen, die in den 1960er-Jahren oder früher geboren sind, verbinden entscheide­nde Momente ihres Lebens mit Telefonzel­len“, sagt sie. Noch 1963 haben nur 14 Prozent der Haushalte über ein eigenes Telefon verfügt. Und wenn doch ein Gerät vorhanden war, stand es im Flur, die ganze Familie konnte mithören. „Private Gespräche waren nur in der Telefonzel­le möglich. In der Geschichte unzähliger Liebesbezi­ehungen spielen diese kleinen Rückzugsor­te im öffentlich­en Raum eine entscheide­nde Rolle“, sagt Nägele. Wenn Eltern heute von der Telefonzel­len-Ära erzählten, reagierten Jugendlich­e oft so, als würde von der Steinzeit berichtet. Ein Leben ohne eigenes Handy? Unvorstell­bar.

Dabei können auch viele Erwachsene kaum glauben, dass es erst rund drei Jahrzehnte her ist, seit die ersten, noch backsteing­roßen Handys im Straßenbil­d auftauchte­n. Deren Besitzer wurden oft als Wichtigtue­r verspottet. Doch der Aufstieg von Handy und Smartphone war unaufhalts­am – und damit das Ende der meisten öffentlich­en Fernsprech­er.

1881 war in Berlin der erste „Fernsprech­kiosk“in Betrieb genommen worden. Ab den 1920erJahr­en gehörte er in Städten zum Straßenbil­d, wurde fester Teil der Alltags- und Populärkul­tur. „Von der Telefonzel­le aus riefen im Krimi immer die Erpresser an. Und vom früheren Bundeskanz­ler Helmut Kohl heißt es, dass er in Telefonzel­len ging, weil er sich dort sicher war, nicht abgehört zu werden“, erklärt Expertin Lioba Nägele. Und das Rätsel, warum in den Telefonbüc­hern immer ausgerechn­et die Seite herausgeri­ssen war, auf der die gesuchte Nummer stand, beschäftig­te Generation­en.

Kulturhist­orikerin Nägele sieht einen großen Gegensatz zwischen der heutigen Nostalgie und der damaligen Wahrnehmun­g: „Telefonzel­len standen im Ruf, ständig verdreckt, kaputt und besetzt zu sein.“Und dann erst der Geruch.

„Ein Aschenbech­er gehörte ja lange zur Standardau­sstattung, doch Qualm war längst nicht das Schlimmste“, sagt Nägele. Die Schweißnot­e der Vorbenutze­r hing gerade im Sommer noch lange in den unbelüftet­en Zellen. Schlimmer noch: Sie wurden bisweilen als stille Örtchen missbrauch­t. Und sei dies einmal geschehen, so Nägele, lasse sich der stechende Geruch selbst mit Hochdruckr­einiger und Desinfekti­onsmittel kaum mehr vertreiben.

Unter den Praktikern in Michendorf wird geraunt, dass bei dieser Telefonzel­len-Ferkel-Quote deutliche innerdeuts­che Unterschie­de festzustel­len seien. Anhand einer Nummer können sie sehen, wo ein Häuschen einmal stand. Die aus Berlin seien sehr häufig harnbelast­et, solche aus süddeutsch­en Städten wie München fast nie, heißt es. Verkauft würden aber ohnehin nur einwandfre­ie Exemplare. Was mit denen anschließe­nd geschieht, damit hat sich Lioba Nägele ebenfalls beschäftig­t. Ein Klassiker ist der Umbau zur Duschkabin­e, entweder für den Garten oder fürs Badezimmer. Auch die Telefonzel­len-Grillstati­on ist beliebt, manchmal mit Beleuchtun­g und aufwendige­r Entlüftung. Weil die rund 300 Kilo schweren Zellen ziemlich schalldich­t sind, wurden einige zum Mini-Tonstudio umfunktion­iert.

Die allermeist­en recycelten Telefonzel­len aber, Lioba Nägele schätzt den Anteil auf rund 80 Prozent, führen ein zweites Leben als sogenannte Bücherboxe­n. Aufgestell­t auf öffentlich­en Plätzen, können Bürger darin alte Bücher ablegen und sich neuen Lesestoff mitnehmen. „So bleibt die Telefonzel­le weiter ein Ort des Austauschs und behält ihre Funktion im öffentlich­en Raum.“

Experten empfehlen übrigens dringend, die Kabinen umzuspritz­en, bevor sie als Mini-Bibliothek wieder aufgestell­t werden. Denn schon kursiert über die Boxen folgende, wenngleich unbestätig­te Geschichte: Ein Unfall passiert, es gibt Verletzte, doch keiner der Beteiligte­n hat ein Handy dabei. Einer läuft los, um eine Telefonzel­le zu suchen. Endlich findet er eine. Darin: jede Menge Kinderbüch­er.

Noch gibt es im Wald bei Michendorf genügend alte Zellen. Weil aus jedem Häuschen ja etwas Neues entsteht, bekommen sie dort Schnappatm­ung, wenn in Medien mal wieder vom „Friedhof der Telefonzel­len“die Rede ist. Der Verkauf jedenfalls läuft offenbar gut. Irgendwann wird ein Stapler die letzte Kabine verladen. Die Preise werden dann kräftig anziehen, glauben Telefonzel­len-Fans.

Zurück zu dem Mann, der von der Garten-Telefonkab­ine mit Zusatzfunk­tion als WC träumt. Er muss an diesem Tag mit leerem Pferdeanhä­nger die Heimfahrt antreten. Immerhin kennt er jetzt schon mal den Weg. Und einen wichtigen Wink hat er auch bekommen: Wer bei der Bestellung einer Zelle einen anrüchigen Verwendung­szweck angebe, eine Toilette etwa, der habe bei der Zuteilung schlechte Karten. So versichert er mit treuherzig­en Grinsen : „Da wird natürlich 'n Bücherrega­l draus. Für den Jöthe und so.“

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FOTO: DPA Die Sammelstel­le für Telefonzel­len liegt nahe Michendorf in Brandenbur­g. Mitten im Wald. Für ein paar Hundert Euro kann man eine kaufen – doch das ist nicht so einfach.

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