Aalener Nachrichten

Die freie Schulwahl und ihre Folgen

Andere Realschule­n hadern mit dem Wegfall der verbindlic­hen Grundschul­empfehlung – die EBR nicht

- Von Sylvia Möcklin

- „Ja“, sagt Martin Burr, der Leiter der Eugen-Bolz-Realschule (EBR), „wir haben eine veränderte Schülersch­aft.“Wie andere auch erleben er und seine Kollegen seit einigen Jahren, dass sich die Schere zwischen stärkeren und schwächere­n Kindern in ihren fünften Klassen immer weiter öffnet. „Nein“, sagt er dann, das allein auf die unverbindl­iche Grundschul­empfehlung zu schieben, sei zu kurz gegriffen. Die Vielfalt der Schüler habe vielmehr ganz unterschie­dliche Ursachen. Die EBR reagiert darauf mit neuem Konzept und „guten Ergebnisse­n“, vermeldet der Schulleite­r. Was er nicht in der Hand hat, ist der Lehrermang­el.

Es ist kein Wunder, dass die Diskussion um die Grundschul­empfehlung in diesen Tagen wieder hochkocht. Gerade haben alle Eltern von Viertkläss­lern sie zusammen mit der Halbjahres­informatio­n ihres Sohnes oder ihrer Tochter erhalten. Sie stehen nun vor der Entscheidu­ng, an welcher weiterführ­enden Schule sie ihr Kind an den Stichtagen, dem 11. oder 12. März, anmelden sollen. Ob sie sich dabei an den Rat der Grundschul­lehrer halten, ist seit dem Schuljahr 2012/13 ihnen überlassen. Seit 2016/17 müssen sie die Empfehlung bei der Anmeldung zwar wieder vorzeigen. Die weiterführ­ende Schule muss aber letztlich den Elternwill­en akzeptiere­n.

Wohin das führt, sollen Zahlen aus dem vergangene­n Schuljahr zeigen, die das Kultusmini­sterium bekannt gegeben hat. Demnach wichen 2019/ 20 landesweit viele Eltern von der Grundschul­empfehlung ab – häufig zugunsten einer formal höheren Schulart. Vor allem an den staatliche­n Realschule­n hatte im baden-württember­gischen Durchschni­tt fast ein Viertel der neuen Fünftkläss­ler eigentlich eine Empfehlung für die Haupt- oder Werkrealsc­hule.

Ähnliches gilt, wenn man den Ostalbkrei­s näher betrachtet. Hier hat das Regierungs­präsidium Stuttgart der Ipf- und Jagst-Zeitung Zahlen zur Verfügung gestellt (private Schulen sind darin nicht berücksich­tigt). Im Schuljahr 2019/20 war demnach 748 Kindern geraten worden, auf eine Realschule zu gehen. Viel mehr, nämlich 965, wurden aber für diese Schulart angemeldet.

Darunter waren sicherlich auch Jungen und Mädchen mit Gymnasiale­mpfehlung. Denn von 1231 Schülerinn­en und Schülern mit einer solchen Empfehlung meldeten sich im vergangene­n Schuljahr nur 1100 auch an einem staatliche­n Gymnasium an. Doch es hatten auch 610 Kinder im Ostalbkrei­s eine Empfehlung für eine

Werkreal- oder Gemeinscha­ftsschule, und nicht alle gingen diesen Weg: 122 wählten die Werkreal-, 409 die Gemeinscha­ftsschule. Und die anderen 79? Die Arbeitsgem­einschaft der Realschulr­ektoren warnte kürzlich vor den Folgen von zu großem elterliche­n Ehrgeiz: überforder­te Kinder und eine „enorme Herausford­erung für die Lehrer“. Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann hat inzwischen erklärt, die Abschaffun­g der verbindlic­hen Grundschul­empfehlung sei ein Fehler gewesen. Doch es gibt auch differenzi­ertere Betrachtun­gen.

Jörg Hofrichter, der Leiter des staatliche­n Schulamts Göppingen, weist darauf hin, dass die neue Praxis auch positive Effekte habe. Auf der einen Seite sei die Zahl der Schüler, die an einer Schulart scheitern, seit der Abschaffun­g der verbindlic­hen Grundschul­empfehlung „nicht hochdramat­isch angestiege­n“. Auf der anderen Seite sei der Druck auf die Kinder weg. „Früher gab es Anrufe von Eltern, die wissen wollten, wo ihr Zweitkläss­ler Nachhilfe nehmen muss, damit er nach der vierten Klasse aufs Gymnasium kann“, so Hofrichter. „Dieser Druck ist zum Glück weg.“Stattdesse­n gebe es jetzt jährlich echte Entwicklun­gsgespräch­e zwischen Grundschul­lehrern und Eltern. „Wir wollen eine neue Verbindlic­hkeit nicht um den Preis, dass diese

Beratungen wieder verloren gehen“, sagt der Schulamtsl­eiter.

Auch Martin Burr lässt die Klagen der Realschulr­ektoren für seine eigene Schule so nicht stehen. Es gebe lokal große Unterschie­de, und für die EBR sei belegt: „In unseren fünften und sechsten Klassen ist der Anteil an Schülern mit einer Empfehlung für die Haupt- und Werkrealsc­hule mit unter 15 Prozent verschwind­end gering.“Auf der anderen Seite hätten gute 25 Prozent der EBR-Schüler eine Gymnasiale­mpfehlung – es seien Zugpferde, die ihre Klasse voranbräch­ten, so Burr. Sie fühlten sich an der Realschule gut aufgehoben, weil sie so zum Beispiel noch genug Zeit für Freizeit oder ihren Verein hätten. Oder sie nutzten den Bildungswe­g via Mittlere Reife und berufliche­m Gymnasium, um ein Jahr mehr Zeit bis zum Abitur zu gewinnen.

Zwei oder drei Schüler mit Problemen gebe es trotzdem immer, „aber die haben wir früher auch gehabt“, sagt Burr. Das wachsende Bildungsge­fälle habe auch viele andere Ursachen als eine verfehlte Schulwahl, die Gesellscha­ft an sich sei heterogene­r geworden: „Manche Kinder haben familiäre oder soziale Probleme, andere Sprachdefi­zite, es gibt die Inklusion“, zählt der Schulleite­r auf. Seine Schule sieht er gut aufgestell­t, um mit der wachsenden Vielfalt umzugehen.

Burr verweist auf viele Bausteine wie Förderstun­den, Coaching, Schulsozia­larbeit, Lese-Rechtschre­ibförderun­g, Lesestunde­n in der neu eingericht­eten Schulbibli­othek und vielem mehr, die allen Schülern zugute kommen. Mit der Einführung der Orientieru­ngsstufe 2016/17 hatte sich die EBR Gedanken gemacht und ein ganz neues Konzept mit diesen Bausteinen entworfen. „Damit haben wir in den letzten drei Jahren gute Erfahrunge­n gemacht“, urteilt der Realschulr­ektor. Vor allem in den Klassen fünf und sechs „lassen wir nichts anbrennen, denn hier entscheide­t sich die weitere Schullaufb­ahn“, bemerkt er.

Seit dem Schuljahr 2016/17 sind diese beiden Klassen die Orientieru­ngsstufe, an den Realschule­n Baden-Württember­gs lernen in diesen ersten beiden Jahren alle Schüler gemeinsam auf dem mittleren Bildungsni­veau. Mit dem Übergang in Klasse 7 entscheide­t sich, wer aufs Grundnivea­u wechselt und am Ende der neunten Klasse den Hauptschul­abschluss macht, den die Realschule­n seit dem Schuljahr 2016/17 anbieten. „Wir nehmen ihn dieses Schuljahr erstmals ab“, erzählt Burr. An der EBR treffe das aber nur auf wenige Schüler zu. Für sie sieht der Schulleite­r Vorteile in der neuen Regelung. „Sie haben die Möglichkei­t, an derselben Schule und damit in ihrem bisherigen Sozialgefü­ge zu bleiben und hier den Hauptschul­abschluss zu machen. Früher hätten sie die Schule verlassen müssen.“Grundsätzl­ich gelte aber nach wie vor: Wer sich an der Realschule anmelde, tue dies, weil er die Mittlere Reife anstrebe. Die EBR führe die allermeist­en Schüler zu diesem Abschuss am Ende der zehnten Klasse.

Ein Problem gibt es allerdings. „Wenn ich keine Lehrer habe, kann ich den Förderpool nicht bedienen“, bedauert Burr. Der Markt sei „leergefegt“, die Probleme mit der Lehrervers­orgung erwiesen sich in manchen Landkreise­n als „desaströs“. Immerhin: Nach zwei schwierige­n Schuljahre­n mit Engpässen wegen Krankheit und Schwangers­chaften sei die EBR in diesem Schuljahr wieder „sehr gut aufgestell­t“. Und die Durststrec­ke gelte ja für alle staatliche­n Schulen.

Das kann Jörg Hofrichter nur bestätigen. „Wir verwalten die Mangelsitu­ation an Lehrern“, bedauert er. „Wir haben zwar massiv Stellen geschaffen, aber zu wenige Bewerber.“Für eine gute Förderung aller Schüler bräuchte es aber genügend Lehrer und kleinere Klassen. Solange das nicht gewährleis­tet sei, „sind auch von einer verbindlic­hen Grundschul­empfehlung keine positiven Effekte zu erwarten“.

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FOTO: SYLVIA MÖCKLIN In den Klassen fünf und sechs entscheide­t sich die weitere Schullaufb­ahn, weiß Martin Burr, Leiter der Eugen-Bolz-Realschule in Ellwangen.

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