Kunst zum Anbeißen
Die Ausstellung „Amuse-bouche. Der Geschmack der Kunst“in Basel verführt zum Naschen
unstwerke,G das weiß jedes Kind, soll man nicht berühren. Im Museum weist den Besucher manchmal ein Schildchen eigens darauf hin. Heute nehme ich – im Museum – ein Kunstwerk in den Mund. Ich lege es mir auf die Zunge. Lasse es seinen Geschmack entfalten. Und schlucke es hinunter. Kein Museumswärter schreitet ein. Auch die Umstehenden sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie essen selber Kunst.
Wir sind im Tinguely Museum in Basel, wo Marisa Benjamin Häppchen zubereitet hat. Häppchen ist eigentlich zu viel gesagt. Es sind lauter Kleinigkeiten, die Probierteller mit jeweils zwei Stückchen ließen sich am besten als Nouvelle Cuisine der verschärften Art beschreiben. Auf die beiden Winzlinge auf meinem Teller – eine dunkle Beere und ein orangefarbenes Fruchtstückchen – hat Marisa Benjamin jeweils zierlichste Blumenblütenblätter appliziert. Das erste Kunstwerk, das ich mit Augen und Zunge genieße, sieht ansprechend aus und schmeckt ein wenig fruchtig, ein bisschen blumig, mit leicht erdiger Note im Abgang.
Nicht schlecht für den Anfang. Doch in der Ausstellung „Amusebouche“gibt es noch mehr zu sehen und zu kosten: Der Basler Parcours ist in Teilen eine veritable Degustation. Dem Besucher, genauer: dem Teilnehmer einer „interaktiven Führung“, kredenzt das Museum Schokolade und Eiskonfekt, Sauerkrautsaft oder ein speziell gebrautes Bier. Der „gewöhnliche“Museumsgast geht an den meisten Stationen des Parcours gustatorisch leer aus.
Am Zuckerrohrschnaps des brasilianischen Künstlerkollektivs Opavivará! zu nippen, kostet einen Moment lang Überwindung: Die Spirituose sprudelt in einem Bidet, man kann sie in einem kleinen Plastikbecher auffangen. Am Ende des Parcours darf sich auch der gewöhnliche Gast an der Pyramide aus Orangen am Boden vor dem Eingang der Schau, der identisch mit dem Ausgang ist, eine Südfrucht greifen und mit nach Hause nehmen.
Wie aber ist es, Kunst mit der Zunge zu genießen? – Um ehrlich zu sein: Die Sensation nutzt sich rasch ab, das Aha-Erlebnis eines vollkommen Neuen bleibt aus. Kunst schmeckt dann doch irgendwie bekannt
Kund gewöhnlich: der Zuckerrohrschnaps leicht süßlich, Elizabeth Willings Lebkuchen an der Wand so, wie man es von Lebkuchen kennt. Das farblose Pflanzen- und Früchtedestillat von Claudia Vogels „Tastescape“überrascht mit einer angenehm duftig-frischen Note, ohne unsere Geschmacksnerven in Aufruhr zu versetzen.
Dennoch ist „Amuse-bouche“sehensund erschmeckenswert. Die Schau gehört zu einer Ausstellungsserie des Museums zu den fünf menschlichen Sinnen. Die Präsentationen zum Geruchssinn („Belle haleine“) und zum Tastsinn („Prière de toucher“) fanden schon 2015 und 2016 statt. Dass der Geschmackssinn für die Kunst überhaupt etwas hergibt, verdankt sich dem Umstand, dass seit der Moderne die Kunst kontinuierlich ihre angestammten Grenzen überschritten hat. So wie sie sich beispielsweise in der Interaktivität auf den Tastsinn erweiterte, dehnte sie sich als Soundkunst auf den Bereich des Akustischen aus.
Den Geschmackssinn machte nicht erst Roger Bürgel mit seiner Einladung des katalanischen Molekularkochs Ferran Adrià zur Documenta 12 im Jahre 2007 zum Thema. Bereits in den Sechzigerjahren wurde in Daniel Spoerris Eat-Art-Aktionen Kunst kulinarisch. Der Schweizer ist in der Ausstellung unter anderem mit seinen berühmten Fallenbildern vertreten.
Selbstverständlich kommt „Amuse-bouche“auch nicht ohne ein barockes Früchtestillleben aus. Der Anblick von Jan Davidsz. de Heems Gemälde lässt einem das Wasser im
Munde zusammenlaufen. In Sam Taylor-Johnsons Video „Still-Life“hingegen ist der Verwesungsprozess von Früchten im Zeitraffer dargestellt – ein Sinnbild der Vergänglichkeit. An einer Stelle des Parcours schimmelt Dieter Roths „Literaturwurst“vor sich hin – neben seinem „Großen Schimmelbild“von 1969.
In „Ich kenne kein Weekend“schließt Joseph Beuys eine ReclamAusgabe der „Kritik der reinen Vernunft“mit einer Maggiflasche kurz: Den hehren Geist blasphemisch mit dem leiblichen Bedürfnis. Auch das Organ und Emblem des Geschmackssinns, die Zunge, spielt in der Ausstellung eine Rolle: In Urs Fischers Installation „Noisette“(2007) schnellt sie beim Vorübergehen lasziv aus einem Loch in der Wand. Und für die Schweizerin Janine Antoni diente die Zunge sogar als Werkzeug, mit dem sie ein Selbstbildnis aus Schokolade („Lick and Lather“, 1993) modellierte.
Heute steht die Kochkunst voll in Blüte oder – um im Bild zu bleiben – (nicht nur) im (Braten-)Saft. Der in Berlin lebende Nigerianer Emeka Ogboh verhandelt in seinem von ihm selbst gebrauten Strout-Bier Themen wie kulturelle Herkunft und soziale Identität. Und die demnächst anlaufende Ausstellung “Iss mich!” der Jungen Kunsthalle Karlsruhe führt den Imperativ der (durchaus ausbaufähigen) Kunst des Schmeckens offensiv bereits im Titel.