„Es kommt auf jeden Einzelnen an“
In der Corona-Krise ruft die Kanzlerin die Bevölkerung in einer einmaligen Ansprache zur Solidarität auf
- Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Zeichen: Erstmalig in ihrer bald 15-jährigen Amtszeit hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch in einer Fernsehansprache zu einem aktuellen Anlass an die Bevölkerung gewandt. Ansprachen der Kanzlerin gab es – den vielen Großkrisen ihrer Amtszeit zum Trotz – bisher nur zu Neujahr. Doch was Lehman-Pleite, Griechenlandschulden und Flüchtlingskrise nicht schafften, hat nun das Coronavirus hinbekommen: Merkel wendet sich mit einer Aufzeichnung zur besten Sendezeit ans Volk – im ZDF nach der „Heute“-Sendung, in der ARD nach der „Tagesschau“– ein „ungewöhnlicher Weg“, wie sie selbst sagt. Doch die „Situation ist ernst und sie ist offen“, betont die Kanzlerin am Mittwochabend. Sie wendet sich mit ernster Miene aus dem Kanzleramt heraus direkt an die Bürger. An ihnen liege es, wie es weitergehe: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handel ankommt.“
Das Virus verändere das Leben dramatisch: „Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichem Leben, von sozialem Miteinander – all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor“, sagt Merkel und zählt auf: Geschlossene Schulen, Kitas, Spielplätze, Universitäten und Geschäfte. Und vor allem: fehlende Nähe. „Wir möchten, gerade in Zeiten der Not, einander nah sein. Wir kennen Zuwendung als körperliche Nähe oder Berührung. Doch im Augenblick ist leider das Gegenteil richtig. Und das müssen wirklich alle begreifen: Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“, sagt die Kanzlerin. Das sei schwer, aber: „So retten wir Leben.“Die Epidemie zeige, wie verwundbar alle seien. Doch es gebe Wege, dem Virus zu trotzen.
Merkel nimmt die ganze Bevölkerung in die Pflicht: „Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinnen und Bürger sie als ihre Aufgabe begreifen.“Die Betonung lässt keine Zweifel zu. Im Redemanuskript ist das IHRE ausdrücklich in Großbuchstaben gesetzt. Die Worte sind Aufforderung und Drohung zugleich. Klappt es nicht mit der Solidarität, kann der Staat anders. Das stellt Merkel in einem Appell unmissverständlich klar: „Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten. Wir werden als Regierung stets neu prüfen, was sich wieder korrigieren lässt, aber auch, was womöglich noch nötig ist“, sagt sie.
Solch große Worte sind Merkeluntypisch, so wie der ganze Auftritt. Die Kanzlerin schaut ernst und fest in die Kamera, spricht klar. Merkel ist zwar kein Emmanuel Macron, der als Frankreichs Präsident sein Land gleich markig in einem „Krieg“wähnt. Und auch kein Kanzler Sebastian Kurz, der Österreich seit Tagen mit durchgestrecktem Rücken mit klaren Ansagen Stück um Stück runterfährt. Aber dies ist auch nicht die Bundeskanzlerin vom vergangenen Montag, die mit weitgehender Emotionslosigkeit die Schließung von Spielplätzen in ganz Deutschland herunterdeklarierte. Es gibt eigentlich nur zwei Momente ihrer Kanzlerschaft, die an diesen Moment auch nur heranreichen: Das „Wir schaffen das“angesichts der Flüchtlingskrise 2015. Und das im „Schwarzen Oktober“2008 abgegebene Versprechen, dass die Einlagen der Sparer sicher seien. Doch dieses Mal ist es anders: 2008 und 2015 verbreitete Merkel Zuversicht, dass ein starkes Deutschland ein eng umrissenes Problem schon lösen kann. Nun geht es um eine „schwere Prüfung“, die die ganze Gesellschaft trifft – und die noch am Anfang steht. Um das Virus auf seinem Weg durch Deutschland zu verlangsamen, müsse das öffentliche Leben „so weit es geht“heruntergefahren werden, fordert Merkel. Alles, was Menschen gefährden und dem Einzelnen oder der Gemeinschaft schaden könne, „müssen wir jetzt reduzieren“. Das heißt: Die Reise- und Bewegungsfreiheit einschränken und die Wirtschaft herunterfahren. Für Geschäfte, Restaurants und Selbstständige seien das zwar schwere Tage, aber „die nächsten Wochen werden noch schwerer“. Die Bundesregierung tue alles, um Arbeitsplätze zu bewahren. Die Kanzlerin dankt dem medizinischen Personal, das „in diesem Kampf in der vordersten Linie“steht ebenso wie jenen, die an Supermarktkassen sitzen oder leer gehamsterte Regale wieder auffüllen. „Danke, dass Sie da sind für Ihre Mitbürger und buchstäblich den Laden am Laufen halten“, sagt sie. Hamsterkäufe kritisiert sie dagegen als „sinnlos“und „vollkommen unsolidarisch“.
Alle staatlichen Maßnahmen gingen ins Leere, wenn sich nicht jeder zurücknehme. „Niemand ist verzichtbar. Alle zählen, es braucht unser aller Anstrengung.“Und findet schon „wunderbare Beispiele“, in denen Nachbarn einander helfen, Enkel ihren Großeltern Podcasts gegen die Einsamkeit aufnehmen. „Wir alle müssen Wege finden, um Zuneigung und Freundschaft zu zeigen: Skypen, Telefonate, Mails und vielleicht mal wieder Briefe schreiben“, sagt Merkel. „Ich bin sicher, da geht noch viel mehr und wir werden als Gemeinschaft zeigen, dass wir einander nicht allein lassen.“
„Dass wir diese Krise überwinden werden, dessen bin ich vollkommen sicher“, sagt Merkel. Doch nun gehe es darum, „wie viele geliebte Menschen“man verlieren werde. Das habe man größtenteils selbst in der Hand. „Wir müssen, auch wenn wir so etwas noch nie erlebt haben, zeigen, dass wir herzlich und vernünftig handeln und so Leben retten. Es kommt ohne Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an“, sagt sie. Merkel schließt mit den Worten: „Passen Sie gut auf sich und auf Ihre Liebsten auf.“Es sind außergewöhnliche Worte und außergewöhnlichen Zeiten.