„Er war dran und hat gesagt, Mutti ist tot“
Hilfspfleger soll sechs Senioren mit Insulin umgebracht haben – Spaichingerin unter den Opfern
- Es ist ein Freitagnachmittag im Sommer, als die Familie von Gisela A. in ihrem Haus in Spaichingen zusammenkommt. Kinder und Enkel sind ebenso zugegen wie ihr Mann, der nach einem Sturz in Kurzzeitpflege ist. „Wir haben Kaffee getrunken, süße Stückle gegessen, die Kinder hatten Luftballons mitgebracht“, erzählt die Tochter von Gisela A. fast drei Jahre später im Saal B175 des Münchner Landgerichts. Ihre Stimme wird brüchig, sie muss kurz innehalten, ehe sie fortfährt. Ihre Mutter – sie ist demenzkrank und bettlägerig – habe den Familientrubel um sie herum genossen, sagt die Tochter. „Es war so ein schöner Tag!“
Dieses Familientreffen im Juli 2017 ist das letzte im Leben von Gisela A. Am darauffolgenden Montag kommt ein neuer Hilfspfleger in ihr Haus, Grzegorz W., am Dienstag verbringt der heute 38-Jährige erstmals die Nacht alleine mit der alten Frau, und am Mittwochmorgen klingelt das Telefon der Tochter von Gisela A. „Er war dran und hat gesagt, Mutti ist tot.“
Er, das ist Grzegorz W., der im Gerichtssaal kaum zwei Meter entfernt von ihr sitzt – auf der Anklagebank. Seit November muss sich der Mann vor dem Landgericht verantworten, weil er in ganz Deutschland sechs ältere Menschen ermordet und selbiges in drei weiteren Fällen versucht haben soll. Stets kam er als 24-StundenHilfspfleger ins Haus der Senioren und nutzte laut Anklageschrift ihre Wehrlosigkeit. Seinen Opfern soll Grzegorz W. hohe Dosen von Insulin gespritzt haben – wobei er als Diabetiker genau wusste, dass er sie damit in Lebensgefahr brachte. Im Anschluss durchsuchte er laut Anklageschrift die Wohnungen nach Wertgegenständen, klaute wohl Bargeld, Schmuck und ein Bundesverdienstkreuz, aber auch so profane Dinge wie Waschmittel, Klopapier und zwei Klobürsten.
„Todespfleger von Ottobrunn“: So nennen die Boulevardblätter Grzegorz W. – nach dem Vorort von München, wo er seine letzte Tat begangen haben soll und schließlich aufflog. Von 2008 bis 2014 saß der gelernte Mechaniker wegen Betrugsdelikten in seiner Heimat Polen im Gefängnis. In der Folge sattelte er zum Hilfspfleger um und wurde ab Herbst 2015 von diversen Agenturen an mindestens 69 Haushalte in ganz Deutschland vermittelt, wo er mitunter nur wenige Tage tätig war.
Zu den ihm vorgeworfenen Taten hat sich Grzegorz W. bislang vor Gericht nicht geäußert. Vielmehr verfolgt der kleine Mann das Geschehen im Saal weitgehend regungslos, die kurzen Arme hält er auf seinem voluminösen Bauch verschränkt.
Mit leerem Blick lauscht er auch der Zeugenaussage von Gisela A.s Tochter, die mit ihrem Bruder als Nebenklägerin in diesem Prozess auftritt, der wohl noch bis Herbst andauern wird. Was sie dachte, als sie Grzegorz W. im Haus der Mutter erstmals gegenüberstand, fragt die Richterin. „Lieber Gott im Himmel, wie soll dieser Mensch unsere Mutter versorgen? Der hat ja Probleme, sich selbst zu versorgen“, antwortet die 62-Jährige. Doch dann habe sie sich für ihre Vorurteile gegenüber dem fettleibigen Mann innerlich gerügt und gedacht: „Jetzt bringen wir erst mal die bisherige Pflegerin zum Busbahnhof, morgen ist ein neuer Tag, dann schauen wir mal.“Doch diesen Tag sollte ihre Mutter nicht mehr erleben.
Wie es ihr heute gehe, fragt die Richterin weiter. „Ich wache oft in der Nacht auf und schlafe dann nicht mehr ein“, antwortet die Tochter von Gisela A. Ob sie sich Vorwürfe mache? Diese Frage beantwortet die 62-Jährige mit nur einem Wort: „Immer.“