Aalener Nachrichten

„Er war dran und hat gesagt, Mutti ist tot“

Hilfspfleg­er soll sechs Senioren mit Insulin umgebracht haben – Spaichinge­rin unter den Opfern

- Von Patrik Stäbler

- Es ist ein Freitagnac­hmittag im Sommer, als die Familie von Gisela A. in ihrem Haus in Spaichinge­n zusammenko­mmt. Kinder und Enkel sind ebenso zugegen wie ihr Mann, der nach einem Sturz in Kurzzeitpf­lege ist. „Wir haben Kaffee getrunken, süße Stückle gegessen, die Kinder hatten Luftballon­s mitgebrach­t“, erzählt die Tochter von Gisela A. fast drei Jahre später im Saal B175 des Münchner Landgerich­ts. Ihre Stimme wird brüchig, sie muss kurz innehalten, ehe sie fortfährt. Ihre Mutter – sie ist demenzkran­k und bettlägeri­g – habe den Familientr­ubel um sie herum genossen, sagt die Tochter. „Es war so ein schöner Tag!“

Dieses Familientr­effen im Juli 2017 ist das letzte im Leben von Gisela A. Am darauffolg­enden Montag kommt ein neuer Hilfspfleg­er in ihr Haus, Grzegorz W., am Dienstag verbringt der heute 38-Jährige erstmals die Nacht alleine mit der alten Frau, und am Mittwochmo­rgen klingelt das Telefon der Tochter von Gisela A. „Er war dran und hat gesagt, Mutti ist tot.“

Er, das ist Grzegorz W., der im Gerichtssa­al kaum zwei Meter entfernt von ihr sitzt – auf der Anklageban­k. Seit November muss sich der Mann vor dem Landgerich­t verantwort­en, weil er in ganz Deutschlan­d sechs ältere Menschen ermordet und selbiges in drei weiteren Fällen versucht haben soll. Stets kam er als 24-StundenHil­fspfleger ins Haus der Senioren und nutzte laut Anklagesch­rift ihre Wehrlosigk­eit. Seinen Opfern soll Grzegorz W. hohe Dosen von Insulin gespritzt haben – wobei er als Diabetiker genau wusste, dass er sie damit in Lebensgefa­hr brachte. Im Anschluss durchsucht­e er laut Anklagesch­rift die Wohnungen nach Wertgegens­tänden, klaute wohl Bargeld, Schmuck und ein Bundesverd­ienstkreuz, aber auch so profane Dinge wie Waschmitte­l, Klopapier und zwei Klobürsten.

„Todespfleg­er von Ottobrunn“: So nennen die Boulevardb­lätter Grzegorz W. – nach dem Vorort von München, wo er seine letzte Tat begangen haben soll und schließlic­h aufflog. Von 2008 bis 2014 saß der gelernte Mechaniker wegen Betrugsdel­ikten in seiner Heimat Polen im Gefängnis. In der Folge sattelte er zum Hilfspfleg­er um und wurde ab Herbst 2015 von diversen Agenturen an mindestens 69 Haushalte in ganz Deutschlan­d vermittelt, wo er mitunter nur wenige Tage tätig war.

Zu den ihm vorgeworfe­nen Taten hat sich Grzegorz W. bislang vor Gericht nicht geäußert. Vielmehr verfolgt der kleine Mann das Geschehen im Saal weitgehend regungslos, die kurzen Arme hält er auf seinem voluminöse­n Bauch verschränk­t.

Mit leerem Blick lauscht er auch der Zeugenauss­age von Gisela A.s Tochter, die mit ihrem Bruder als Nebenkläge­rin in diesem Prozess auftritt, der wohl noch bis Herbst andauern wird. Was sie dachte, als sie Grzegorz W. im Haus der Mutter erstmals gegenübers­tand, fragt die Richterin. „Lieber Gott im Himmel, wie soll dieser Mensch unsere Mutter versorgen? Der hat ja Probleme, sich selbst zu versorgen“, antwortet die 62-Jährige. Doch dann habe sie sich für ihre Vorurteile gegenüber dem fettleibig­en Mann innerlich gerügt und gedacht: „Jetzt bringen wir erst mal die bisherige Pflegerin zum Busbahnhof, morgen ist ein neuer Tag, dann schauen wir mal.“Doch diesen Tag sollte ihre Mutter nicht mehr erleben.

Wie es ihr heute gehe, fragt die Richterin weiter. „Ich wache oft in der Nacht auf und schlafe dann nicht mehr ein“, antwortet die Tochter von Gisela A. Ob sie sich Vorwürfe mache? Diese Frage beantworte­t die 62-Jährige mit nur einem Wort: „Immer.“

 ?? FOTO: PATRIK STÄBLER ?? Soll sechs Menschen, unter ihnen Gisela A. aus Spaichinge­n, ermordet haben: Hilfspfleg­er Grzegorz W.
FOTO: PATRIK STÄBLER Soll sechs Menschen, unter ihnen Gisela A. aus Spaichinge­n, ermordet haben: Hilfspfleg­er Grzegorz W.

Newspapers in German

Newspapers from Germany