Aalener Nachrichten

Dem Tod plötzlich ganz nahe

Katharina Pohl hält die Beschränku­ngen wegen Covid-19 zuerst für übertriebe­n und ist wütend, weil sie ihren Job verliert – Doch als es ihren Vater trifft, ändert sich alles – Was diese Zeit zwischen Hoffnung und Verzweiflu­ng für alle bedeutet

- Von Erich Nyffenegge­r

- Wenn Karl* heute mit dem Rollator, zusätzlich gestützt von seiner Physiother­apeutin, vier Schritte durch das kleine Zimmer auf der Intensivst­ation des Münchner Krankenhau­ses Barmherzig­e Brüder macht, sinkt er danach sofort in die Kissen und muss augenblick­lich schlafen. Die Erschöpfun­g zwingt ihn dazu. „Mein Papa weiß jetzt gar nicht so recht, ob er traurig oder glücklich sein soll“, sagt Katharina Pohl. Die junge Frau aus Lindau am Bodensee weiß, dass es heute, mehr als acht Wochen in der Klinik, gut hätte sein können, dass es nichts mehr von ihrem Vater zu berichten gäbe. Nur noch Erinnerung­en an einen Verstorben­en. Und so ganz ist der 58-Jährige auch jetzt noch nicht außer Gefahr.

Es ist Anfang März, als Katharina Pohl – schlanke Erscheinun­g, das rote Haar zu Dreadlocks nach oben gebunden – die sich langsam abzeichnen­den Einschränk­ungen des Lebens wegen der Pandemie für übertriebe­n hält. In einem langen Text, in dem sie die ganze Achterbahn­fahrt ihrer Gefühle seither aufgeschri­eben hat, heißt es zunächst: „Jedes Jahr sterben Tausende an der Influenza, da kräht kein Hahn danach. Die Schulen und Kindergärt­en schließen. Ich habe selbst zwei Kinder, vier und neun Jahre alt, und frage mich, wie ich die Betreuung organisier­en soll. Schließlic­h muss ich arbeiten. Ich werde etwas wütend. ,Da haben die Politiker nicht zu Ende gedacht’, denke ich mir. Dann kommt die Schließung des Einzelhand­els und für mich damit die Kündigung. Jetzt bin ich richtig sauer! All diese Maßnahmen, wegen so wenigen Infizierte­n? Wie soll mein Leben jetzt weitergehe­n? Wie soll ich meine Rechnungen bezahlen? Ich verfluche diese in meinen Augen übertriebe­nen Reaktionen auf eine ,Grippe’. Habe kein Verständni­s für die Panik und die Hamsterkäu­fe.“Heute sagt sie: „Ich lag so falsch.“

Einen kompletten Sinneswand­el der 26-Jährigen bewirkt ein einziger Anruf, der kommt Ende März von ihrem Vater. Zu diesem Zeitpunkt ist der allein in München lebende Mann bereits im Homeoffice, geht nur zum Einkaufen raus. Benutzt die U-Bahn so selten wie möglich. „Ich glaube, es ist nur eine Grippe“, sagt der Verwaltung­sangestell­te seiner Tochter am Telefon, die ihn vor lauter Husten, Schüttelfr­ost und Röcheln nur schlecht versteht. Nur die Grippe? Wo er sich doch Anfang des Jahres noch dagegen hat impfen lassen? Außerdem: Karl hatte vor zwei Jahren einen Herzinfark­t, bekam Stents eingesetzt. Er ist zwar Risikopati­ent, aber zuletzt in gutem Allgemeinz­ustand.

Die Frühlingst­age vergehen, während der Vater im fernen München das Bett hütet, am Telefon trotz Atemnot abwehrt, er werde schon bald wieder fit sein. „Warst du beim Arzt, Papa?“, fragt Katharina mahnend. Wäre er vermutlich gewesen, wenn der ihm nicht verboten hätte, seine Praxis zu betreten. Er solle sich an den ärztlichen Bereitscha­ftsdienst wenden. Dort heißt es am Telefon: „Wir kommen zu Ihnen, wenn wir einen Termin freihaben.“Also wartet der Vater. Hält durch, versucht sich selbst Mut zu machen. Aber auch nach fast einer Woche kommt niemand vom ärztlichen Bereitscha­ftsdienst.

In ihren Aufzeichnu­ngen aus dieser Zeit der Schwebe – in der sie ihn nicht besuchen und nur telefonisc­h mit wachsender Sorge für ihn da sein kann – notiert Katharina: „Sechs Tage sind inzwischen vergangen. Noch immer war kein Arzt bei meinem Vater. Meine Sorge steigt zusammen mit dem Fieber. Doch so stur Väter nun mal sind, hört er nicht auf mein Drängen, den Notarzt zu rufen. Ich weiß nicht weiter. Bin hin- und hergerisse­n, zwischen Zuversicht und wachsender Panik. Hat er doch das neue Virus? Ist es vielleicht doch schlimmer, als ich dachte? Ich informiere meine Tante. Sie ist vom Fach, arbeitet im Labor eines Krankenhau­ses in München. Dass mein Vater krank ist, wusste sie nicht. Warum hat er es ihr verschwieg­en? Sie wird sich darum kümmern, ich bin erleichter­t.“

Was genau seine Schwester zu dem Kranken gesagt hat, weiß Katharina nicht. Aber es zeigt Wirkung: Der Patient ruft schließlic­h den Notarzt. Dann geht alles ganz schnell, drei Minuten später ist der Rettungswa­gen da und Karl auf dem

Weg in die Klinik. Zunächst liegt er auf einer normalen Station. Der Corona-Test ist wie erwartet positiv. Zu diesem Zeitpunkt lautet die Diagnose: doppelseit­ige, schwere Lungenentz­ündung – sowohl verursacht durch das Virus als auch zusätzlich durch eine bakteriell­e Infektion. Katharina telefonier­t mit ihm, da ist der Vater noch recht munter und zuversicht­lich.

Dann der Schock. Die Tochter notiert: „Meine Tante ruft mich an, mein Vater liegt im Koma. Ich bin fassungslo­s. Warum? Jetzt setzt echte Angst ein. Noch während meine Tante versucht, mir die medizinisc­hen Begriffe zu erklären, rasen die Gedanken durch meinen Kopf. Meine Beine zittern, ich muss mich setzen. Ich versuche stark zu sein, nicht zu weinen, aber mein Hals ist wie zugeschnür­t. Meine Tante weint. Das macht mir noch mehr Angst. Ich danke ihr für die Informatio­n, mechanisch lege ich auf. Bleibe sitzen. Atme. Stunden später habe auch ich geweint. Nur ganz kurz, denn ich habe beschlosse­n, nicht die Hoffnung zu verlieren und die Trauer nicht jetzt schon zuzulassen. Es ist schwer. Jeden Tag warte ich gespannt auf einen Anruf von meiner Tante. Sie ist der Notfallkon­takt meines Vaters und sie versteht, was die Ärzte ihr erzählen. Es wird schlimmer.“

Der Kranke wird auf der Intensivst­ation künstlich beatmet. Die Entzündung­swerte steigen enorm an. Die Nieren versagen. Die Leber stellt ihre Arbeit ein. „Multiples Organversa­gen“, erinnert sich Katharina. Die Ärzte haben keine guten Neuigkeite­n, auch die Tante verbreitet keinen Optimismus. Katharina sagt: „Anscheinen­d wollte mein Vater leben, er hat gekämpft. Also habe ich mitgekämpf­t gegen die Sorgen, gegen die Angst und gegen die Trauer.“Die Hilflosigk­eit sei das Schlimmste gewesen. „Was sage ich meinen Kindern?“

Der Zustand der Ungewisshe­it zieht sich endlos, wie Katharina festhält: „Es werden quälende drei Wochen. Unendlich lange Wochen, geprägt von Sorge und Angst. Die Familie rückt näher zusammen. Verstreut in ganz Deutschlan­d und Österreich, sind wir uns trotz der räumlichen Entfernung so nahe wie nie zuvor. Uns plagen dieselben Ängste, unsere Herzen schlagen gemeinsam und mit einem Ziel: Wir geben die Hoffnung nicht auf.“

Und dann, der erste Lichtblick: Die Entzündung­swerte sinken, die Krankheit hat ihren Zenit überschrit­ten, Karl lebt. Wenn auch unendlich geschwächt. Angeschlos­sen an Maschinen, die sein Blut waschen. Schließlic­h erwacht der Vater nach einer gefühlten Ewigkeit. Über den Berg ja, aber noch lange nicht wissend, was ihn dieser vorerst gewonnene Kampf langfristi­g kosten wird. Welche Schäden zurückblei­ben. Bei Katharina Pohl entlädt sich die Anspannung, das wochenlang­e Zusammenre­ißen, in befreiende­n Tränen. Vorerst gerettet.

Es beginnt eine Zeit der winzigen Fortschrit­te. Dialyse, und wieder selbststän­diges Atmen, aber auch Wasser in der Lunge, immer wieder Atemnot. Weiterhin Intensivst­ation. Zu schwach zum Telefonier­en, lieber per WhatsApp Kontakt halten. Katharinas Haltung zur Pandemie hat sich inzwischen total gedreht: „Ich bin froh über die Maßnahmen, die unser Gesundheit­ssystem entlasten. Ich bin froh, dass es hier keine so enorme Krankheits­welle gab wie in Italien oder

Spanien. Ich bin froh, dass es bei uns genug Intensivbe­tten und Beatmungsg­eräte für alle Erkrankten gibt. Ob wirklich alle Maßnahmen sinnvoll sind? Ich weiß es nicht. Doch ich habe eingesehen, dass es Menschen gibt, die sehr viel mehr Ahnung von Pandemien und Krankheite­n haben. Ich bin keine Virologin, warum sollte ich es besser wissen? Ich erlaube mir kein Urteil mehr darüber. Was ist schon ein verlorener Job im Vergleich zu einem verlorenen Leben?“

Bei aller Erleichter­ung darüber, dass es nicht zum Schlimmste­n gekommen ist, bleibt doch die Sorge um die Schäden. „Körperlich wie psychisch. Denn nicht nur mein Vater, wir alle, meine Kinder, mein Mann und ich, werden nicht mehr dieselben sein“, sagt Katharina Pohl. Inzwischen hat sich der Zustand von Karl so weit stabilisie­rt, dass auf die Dialyse verzichtet werden kann – bei sich leicht verbessern­den Blutwerten auf schlechtem Niveau. Durch das lange Liegen haben sich große Hämatome gebildet, die auf die Nervenbahn­en drücken. Dadurch ist das linke Bein des Patienten komplett taub.

Wenn Katharina Pohl im Fernsehen die Demonstrat­ionen sieht und Menschen, die das Virus und die damit verbundene Gefahr verharmlos­en, ja komplett in Abrede stellen, wird sie wütend: „Ich würde diese Leute am liebsten an der Hand nehmen und mitnehmen auf die Intensivst­ation.“Wo noch immer Menschen liegen, die nicht wie ihr Vater aus dem Koma erwacht sind – und vielleicht für immer schlafen. Karls Psyche fährt indes Achterbahn. Mal hat er Tage voller Zuversicht, mal resigniert er. „Vor Kurzem konnte er gar nicht schlafen. Da haben die Ärzte im Nachbarzim­mer der Intensivst­ation einen Covid-19-Patienten dreimal in einer Nacht wiederbele­bt“, sagt Katharina Pohl.

Inzwischen ist Karl dreimal negativ getestet worden. Katharina Pohl durfte ihn mittlerwei­le besuchen. Unter strengsten Hygieneauf­lagen und dreimalige­r Desinfekti­on hoch bis unter die Achseln. Beim letzten Mal durfte sie ihm sogar einen Eisbecher mitbringen. „Es war das erste Eis des Jahres für ihn. Er hat sich gefreut wie ein kleines Kind.“

Wann der Vater das Krankenhau­s wird verlassen dürfen, ist noch völlig offen. „Wir hoffen, noch diesen Sommer“, sagt Katharina Pohl. Und danach? Erst Reha, dann werde man sehen. „Allein in seiner Wohnung leben, das kann ich mir im Moment überhaupt nicht vorstellen. Wir würden ihn gern zu uns nach Lindau holen. Wir haben ein Haus und genug Platz“, sagt die Tochter. Die Frage sei nur, ob er diese Hilfe auch annehmen könne. „Aber das warten wir jetzt mal ab. Alles der Reihe nach.“Das Wichtigste sei im Moment, dass die Organe wieder verlässlic­h arbeiten. Ihr Vater wieder zu Kräften komme. Und vielleicht morgen schon sechs Schritte mit dem Rollator schaffe.

* Name von der Redaktion geändert.

„Es werden quälende drei Wochen. Unendlich lange Wochen, geprägt von Sorge und Angst.“

Katharina Pohl

„Was ist schon ein verlorener Job im Vergleich zu einem verlorenen Leben?“

Katharina Pohl

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FOTO: NYFFENEGGE­R Katharina Pohl aus Lindau musste wochenlang um das Leben ihres Vaters bangen. Eine Zeit, die sie und ihre Familie geprägt und ihre Einschätzu­ng der Pandemie drastisch verändert hat.

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