Boris Johnsons Brexit-Endspiel in Brüssel
Premier reist für entscheidende Brexit-Gespräche nach Brüssel – „No Deal“wahrscheinlich
Das Treffen mit EUKommissionschefin Ursula von der Leyen dürfte eine Art Endspiel in den Post-BrexitVerhandlungen werden. Boris Johnson (Foto: Daniel Leal-Olivas/ AFP) wird angesichts der festgefahrenen Verhandlungen um einen Handelspakt in den nächsten Tagen persönlich nach Brüssel reisen. Am Dienstag stellte der britische Premier klar, dass man noch „weit voneinander entfernt“sei. Johnson betonte, man habe die EU verlassen, um demokratische Kontrolle ausüben zu können.
- In den kommenden Tagen wird Boris Johnson für die wohl entscheidenden Brexit-Verhandlungen nach Brüssel reisen. Auch wenn der genaue Termin bislang noch nicht feststeht, ist eines klar: Johnsons Besuch steht unter keinen guten Vorzeichen.
Von aller Brexit-Aktualität abgesehen – der Trip nach Brüssel diese Woche dürfte beim britischen Premierminister Boris Johnson gemischte Gefühle und schmerzhafte Erinnerungen wachrufen. In den 1970er-Jahren – Johnson besuchte als Sohn eines der ersten britischen Beamten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die europäische Schule – ging in der belgischen Hauptstadt die Ehe seiner Eltern auseinander. Knapp 20 Jahre später zerbrach dort seine eigene erste Ehe. Kein gutes Omen also für ein freundschaftliches Ende im letzten Akt des seit Jahren andauernden Scheidungsprozesses zwischen dem zur EU gereiften 27er-Club und Großbritannien.
Als schwebten ihm solcherlei Assoziationen an die eigene Lebensgeschichte vor, übte sich der konservative Regierungschef am Dienstag in Tiefstapelei. Es werde „aus heutiger Sicht sehr, sehr schwierig“werden, die Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis zwischen Insel und Kontinent zu einem glücklichen Ende zu bringen, teilte Johnson in London mit. Natürlich müsse man immer optimistisch sein und an die Macht der Vernunft glauben, aber: „Wir sind weit voneinander entfernt.“
War dies nur die jüngste Szene einer meisterlichen Inszenierung, die am Ende doch in ein allseits befriedigendes Happy End mündet? Oder Ausdruck echter Besorgnis? Den Besuch in Brüssel hatte Johnson am Montagabend im Telefonat mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verabredet, dem zweiten direkten Kontakt des Duos binnen 48 Stunden. Es gebe weiterhin „erhebliche Differenzen“in den drei seit Monaten bekannten Streitpunkten, hieß es im gemeinsamen Communiqué: faire Konkurrenzbedingungen – das sogenannte level playing field, die Schlichtungsinstanzen bei zukünftigen Konflikten der Vertragsparteien, sowie die Fischerei in der Nordsee und im Ärmelkanal. Dass gegen Ende der monatelangen Gespräche die politische Führung auf beiden Seiten würde eingreifen müssen, stand längst fest. Und das Ende rückt unerbittlich näher: Wenn es nicht zur Einigung kommt, scheidet das im Januar ausgetretene Ex-Mitglied an Silvester im Chaos („No Deal“) aus der Übergangsphase aus, in der einstweilen noch die bisherigen Bestimmungen weitergelten.
Der schon aus nationalem Eigeninteresse stets wohlinformierte Außenminister Irlands – der grünen Insel drohen durch den „No Deal“schwere Verwerfungen – hatte vergangene Woche noch Zuversicht verbreitet, gab sich am Dienstag aber ebenfalls pessimistisch. In Brüssel, glaubt Simon Coveney, rechne man zunehmend mit dem Scheitern der Gespräche. Je länger die Unsicherheit anhält, desto grösser wird schon jetzt der Schaden für die handeltreibenden Unternehmen auf beiden Seiten. Auch eine doch noch erzielte Vereinbarung werde seinem Sektor Schaden zufügen und Jobs kosten, warnt Stephen
Phipson von MakeUK, einer Vereinigung von Unternehmen der verarbeitenden Industrie. „No Deal“wäre sogar „eine Katastrophe“. Ähnlich argumentiert Johan van Zyl: Er sorge sich um die Wettbewerbsfähigkeit seiner beiden Fabriken auf der Insel, sagt der Europachef des Autobauers Toyota und droht indirekt mit der Schließung von Standorten. Wird Grossbritannien zum Drittstaat ohne privilegierten Zugang zum grössten Binnenmarkt der Welt, stehen der Automobilindustrie Zölle und Abgaben von zehn Prozent ins Haus.
Unverdrossen wiederholte der Premier am Dienstag seine alte Maxime, wonach die Insel „auf alle Fälle florieren“werde. Das Kabinett weiß er im Pokerspiel mit Brüssel hinter sich; die konservative Parlamentsfraktion wünscht sich mehrheitlich eine Vereinbarung, ist von einer Rebellion aber weit entfernt. Proteste traut man am ehesten jenen zwei bis drei Dutzend Brexit-Ultras zu, die jeden Kompromiss grundsätzlich für Verrat an der staatlichen Souveränität halten. Ihnen gegenüber hat Johnson aber Handlungsspielraum gewonnen, weil die Labour-Opposition unter Keir Starmer sich bei der Abstimmung im Unterhaus über den Handelsvertrag der Stimme enthalten, ihm womöglich sogar zustimmen wird.
Selbst erfahrene Johnson-Beobachter trauten sich zu Wochenbeginn keine Prognose darüber zu, was der 56-Jährige beim avisierten Trip auf den Kontinent erreichen will. Einstweilen steht nicht einmal der Termin fest. Aus von der Leyens Sicht spricht manches dafür, das leidige Thema Brexit im Vorfeld des am Donnerstagnachmittag beginnenden EU-Gipfels hinter sich zu bringen; dann könnte sich die Kommissionspräsidentin im Kreis der Staats- und Regierungschefs den wichtigen Gemeinschaftsthemen wie dem ungeklärten Haushalt für die kommenden Jahre widmen. In London wird aber auch spekuliert, der Engländer werde sich erst nach dem Gipfel auf den Weg machen. Sonderlich vergnüglich wird die Reise auf keinen Fall, schon der trüben Erinnerungen wegen.