Ein Pflaster auf die Wunde
Das Attentat auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ist eine Wunde, die nicht heilen will. Auch nach dem Urteil gegen die elf Angeklagten ist das Kapitel „Charlie“für Frankreich nicht abgeschlossen. Zwar wurde der Hauptangeklagte Ali Riza Polat zu 30 Jahren Haft verurteilt. Auch weitere Komplizen der drei toten Attentäter erhielten ihre gerechte Strafe. Dennoch bleibt ein bitterer Beigeschmack nach den 54 Tagen dieses historischen Prozesses. Denn drei Angeklagte, die nach Syrien flohen, werden wohl nie bestraft werden. Gegen sechs weitere Männer war die Beweislage so dünn, dass das Gericht ein terroristisches Motiv ausschließen musste. Das Wort vom „Stellvertreterprozess“, das die Anwälte der Verteidigung benutzten, ist tatsächlich nicht aus der Luft gegriffen.
Aber die Justiz kann die Aufarbeitung der Attentate, die sich im Januar 2015 ereigneten, ohnehin nicht alleine leisten. Die tödlichen Angriffe auf „Charlie Hebdo“und den jüdischen Supermarkt mit 17 Toten müssen auch von anderen Seiten beleuchtet werden. Das machte dieser Prozess einmal mehr deutlich. Frankreich muss sich mit der Frage beschäftigen, warum Attentäter wie die Brüder Kouachi oder Amedy Coulibaly, alle drei in Frankreich geboren, zu Islamisten wurden. Das Land muss auf seine Gefängnisse schauen, wo die Kouachis und Coulibaly sich radikalisierten und Komplizen für ihre Anschläge fanden. Der Antisemitismus, den Coulibaly offen vertrat, ist ebenfalls ein immer wiederkehrendes Problem.
Der Kreislauf der Gewalt werde geschlossen, schrieb der Chefredakteur von „Charlie Hebdo“zu dem Urteil. Doch die Gewalt der Terroristen wird Frankreich, das bereits mehr als 260 Opfer zu beklagen hat, wohl weiter begleiten. Auch wenn 2021 ein von Präsident Emmanuel Macron vorangetriebenes Gesetz kommt, das den Islamismus stärker bekämpfen soll, ist das Risiko neuer Anschläge hoch. Die Wunden, die die Islamisten im Januar 2015 schlugen, werden immer wieder aufreißen. Das Urteil des Schwurgerichts kann nur ein Pflaster sein – mehr nicht.