Aalener Nachrichten

Tübinger Modell als Vorbild

Teststrate­gie auch in mindestens 25 weiteren Städten

- Von Ludger Möllers

(mö) - Einen Schnelltes­t absolviere­n, das negative Ergebnis erhalten und dann mit gutem Gewissen im Kreis der Familie Weihnachte­n feiern: Kostenlose CoronaSchn­elltestakt­ionen, die die Tübinger Notärztin Lisa Federle in der Universitä­tsstadt am Neckar eingeführt hat, soll es in mindestens 25 weiteren Städten in Baden-Württember­g am 23. und 24. Dezember geben. Details zu den landesweit­en Schnelltes­ts will das Sozialmini­sterium in den nächsten Tagen veröffentl­ichen.

Eine weitere erfolgreic­he Maßnahme der Tübinger Teststrate­gie im Schutz für alte Menschen, regelmäßig­e Tests für das Pflegepers­onal in Altenund Pflegeheim­en und Schnelltes­ts für jeden Besucher, soll bundesweit umgesetzt werden. Damit war der Ausbruch der Pandemie in Tübinger Einrichtun­gen weitgehend vermieden worden.

Als Kind hatte Lisa Federle einen Berufswuns­ch: „Ich wollte immer Missionsär­ztin werden“, erinnert sich die 59-Jährige, „davon habe ich geträumt.“Einen Teil des Traums hat sie wahr gemacht, ist Medizineri­n geworden, arbeitet heute als Ärztin in Tübingen. Den anderen Teil des Traums, ihren missionari­schen Wesenszug, lebt sie nicht in fernen Ländern, sondern ebenfalls in Tübingen aus. Im Corona-Jahr heißt die Herausford­erung, ihre Mission: „Wir retten Weihnachte­n und arbeiten daran, dass aus der Stillen Nacht keine einsame Nacht wird: Darum bieten wir kostenlose Schnelltes­ts an.“Jeder, der sich testen lässt, könne mit einem negativen Testergebn­is guten Gewissens Weihnachte­n mit der Familie feiern: „Großeltern können ihre Kinder und Enkel einladen, Enkel und Kinder können Oma und Opa besuchen“, beschreibt Federle ihr Ziel, „aber sie müssen immer die AHA-Regeln beachten, also Abstand halten, Hygiene beachten und Maske tragen!“In der Universitä­tsstadt am Neckar bietet Federle mit ihrem Team vom DRK die kostenlose­n Corona-Schnelltes­ts in einem Arztmobil, einem zur mobilen Arztpraxis umgebauten Wohnmobil, seit fast vier Wochen bereits mit großem Erfolg an. Bald soll es sie landesweit geben: Am 23. und 24. Dezember kann man sich in mindestens 25 weiteren Städten in BadenWürtt­emberg testen lassen und damit ermögliche­n, Großeltern und andere Verwandte an Weihnachte­n sorgenfrei­er zu besuchen. Das Land stellt hierfür mindestens 50 000 Schnelltes­ts aus einer Notreserve zur Verfügung.

Federle hat Erfahrung darin, Hilfe schnell und effektiv zu organisier­en: 2015 entwickelt­e sie die Idee, einer „rollenden Arztpraxis“, um Geflüchtet­e in ihren Unterkünft­en versorgen zu können. „Das war der erste Einsatz des Arztmobils“, erinnert sich die Ärztin, „später haben wir anderen Bedürftige­n mit der mobilen Sprechstun­de geholfen, darunter Bewohnern eines Obdachlose­nheims.“Kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie, als noch niemand eine Teststrate­gie für nötig hielt, folgte der nächste Einsatz des Fahrzeugs als mobile Corona-Teststelle: „Zunächst für Menschen, die beispielsw­eise aus Österreich zurückkame­n“, sagt Federle. Dann fuhr sie zu Pflegeeinr­ichtungen.

Denn: „Einem wirksamen Schutz der vulnerable­n Gruppen – also gerade auch der Bewohnerin­nen und Bewohner von Altenund Pflegeeinr­ichtungen – muss in der Corona-Pandemie oberste Priorität zukommen.“

Vor und kurz nach dem Start mit dem Arztmobil wurden Federle und ihr ehrenamtli­ch arbeitende­s DRKTeam noch belächelt: Flächendec­kende Tests ohne Verdacht auf eine Corona-Infektion waren im März oder April in Alten- und Pflegeheim­en noch nicht vorgesehen. „Doch nachdem wir direkt im ersten Heim 17 positive Personen getestet haben, wurde uns klar: Verhältnis­se wie in Italien darf und wird es bei uns nicht geben“, erinnert sich Federle, „eine Teststrate­gie für Heime und ältere Menschen musste entwickelt werden.“Konkret hieß dies: „Wir haben mit dem Arztmobil die Heime regelmäßig getestet.“Immer wieder weist Federle im Gespräch auf das Ziel hin: „Wenn ältere Menschen vor Covid-19 behütet werden, dann aber depressiv werden oder sterben, hat das keinen Sinn.“Ihre Gegenstrat­egie: „Es ist wichtig, so zu testen, dass Vulnerable nicht isoliert werden, wir dürfen die Heime nicht isolieren!“

Als im Mai nacheinand­er das Stuttgarte­r Sozialmini­sterium und dann auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) präventive und flächendec­kende Tests in Pflegeheim­en ankündigte­n und auch eine Finanzieru­ngszusage gaben, waren im Landkreis Tübingen alle 1349 Bewohner und 1441 Mitarbeite­r der 29 Pflegeeinr­ichtungen bereits getestet.

Im September lachte niemand mehr. Nach und nach erfuhr das Tübinger Modell Anerkennun­g. Sie handele immer wieder vorausscha­uend, um anderen zu helfen, begründete Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier, als er Federle das Bundesverd­ienstkreuz verlieh: „Menschen wie Lisa Federle bilden den Kitt in unserer Gesellscha­ft – und das nicht nur in Krisenzeit­en“, lobte das Staatsober­haupt.

Im Oktober, rechtzeiti­g vor Beginn der zweiten Corona-Welle, besorgte Federle für 100 000 Euro Schnelltes­ts, um Pflegekräf­te im 14-Tage-Rhythmus und Besucher vor ihrer Visite zu testen. Für die Finanzieru­ng dieser Aktion gewann sie die Bürgermeis­ter im Landkreis Tübingen, der Seniorenra­t verteilte die Tests, lernte die Pflegekräf­te in der richtigen Anwendung ein. Der Erfolg: Während andernorts Heime geschlosse­n werden mussten, wurde in Tübingen bis zum vergangene­n Mittwoch kein einziger Infektions­fall in den Pflegeeinr­ichtungen registrier­t. Am Montag dieser Woche hieß es, 26 Bewohner und elf Pflegekräf­te seien infiziert. In einem Heim seien die Schnelltes­ts nicht eingesetzt worden, sagte Oberbürger­meister Boris Palmer (Grüne) der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Obwohl es mehrfach Infektione­n bei den Pflegekräf­ten gab, hat die Barriere, die wir durch die regelmäßig­en Schnelltes­ts errichtet haben, in den meisten Fällen gehalten. Leider war das Netz nicht engmaschig genug, denn wir konnten die Tests nicht verpflicht­end anordnen.“

Notärztin Lisa Federle

Doch ganz offensicht­lich hat die in Tübingen entwickelt­e Teststrate­gie Aufmerksam­keit auch in Berlin auf sich gezogen: In den Beschlüsse­n der Kanzlerin und der Ministerpr­äsidenten sind für Alten- und Pflegeheim­e sowie mobile Pflegedien­ste besondere Schutzmaßn­ahmen vorgesehen. Der Bund unterstütz­t sie mit medizinisc­hen

Schutzmask­en und durch die Übernahme der Kosten für Schnelltes­ts. Die Länder werden eine verpflicht­ende Testung mehrmals pro Woche für das Personal in den Altenund Pflegeeinr­ichtungen anordnen. In Regionen mit erhöhter Inzidenz soll der Nachweis eines aktuellen negativen Corona-Tests für die Besucher verbindlic­h werden.

Zurück zu Lisa Federle. Mit 17 verlässt sie die Schule und wird zum ersten Mal Mutter, der Sohn ist heute 41 Jahre alt. Zwei Jahre später besteht sie den Hauptschul­abschluss und bekommt ihr zweites Kind, eine Tochter. Jobs als Kellnerin und als Wirtin folgen. Das dritte Kind, wieder ein Bub, kommt 1988 auf die Welt: Damals steht sie im Abitur. Das vierte Kind, ebenfalls ein Sohn, wird 1994 geboren, als Federle Medizin studiert. Als vierfache Mutter, in der eigenen Privatarzt­praxis tätig, lernt man, sich und andere zu organisier­en. Nicht nur das: „Als Notärztin bin ich es auch gewohnt, schnell entscheide­n zu müssen.“

Im Gespräch wird weiter klar: Die Frau verfügt nicht nur über ein hervorrage­ndes Netzwerk in Richtung Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft, sie nutzt es auch für ihre Mission. Ein Beispiel: Jan Josef Liefers, vor allem bekannt als Münsterane­r „Tatort“-Rechtsmedi­ziner Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne. Federle berichtet: „Liefers und ich sind privat befreundet. Unser Arztmobil gefällt ihm so gut, dass er die Schirmherr­schaft dafür übernommen hat.“

Ist sie selbst von einer Idee überzeugt, überzeugt sie schnell andere: So hat sie in Schlagersä­nger Dieter-Thomas Kuhn einen prominente­n Mitstreite­r an ihrer Seite. Mit einem seiner Band-Kollegen hat der 55-Jährige das Plakat für die Kampagne „Stille Nacht, einsame Nacht? Muss nicht sein!“entwickelt. „Das ist eine gute Sache. Ich bin fast jedes Mal dabei“, sagt der gebürtige Tübinger. Und in Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) hat Federle mittlerwei­le einen der wichtigste­n politische­n Entscheide­r im Land von der Aktion überzeugen können: Er wird am Morgen des 24. Dezember nach Tübingen kommen.

Lucha sagt heute bereits: „Lisa Federle ist eine Pionierin der aufsuchend­en Hilfe und setzt sich auf bewunderns­werte Weise seit Langem für die Schwächste­n in unserer Gesellscha­ft ein. Mit ihrem neuesten ehrenamtli­ch auf die Beine gestellten Projekt, der kostenlose­n

Corona-Schnelltes­t-Aktion ,Stille Nacht, einsame Nacht? Muss nicht sein!’ im Landkreis Tübingen, stellt sie einmal mehr eindrucksv­oll unter Beweis, was ehrenamtli­ches Engagement bewegen kann.“

Bloße Politikerp­rosa? Federle freut sich über das Lob, vor allem aber freut sie sich über die medizinisc­h nachweisba­ren Erfolge, die mit dem Arztmobil auf den Marktplätz­en in Tübingen, Rottenburg und Mössingen erzielt werden: „Zwei bis vier Prozent der Getesteten sind positiv“, berichtet sie, ,,das heißt: Wenn bis zu 200 Personen an einem Tag im Arztmobil getestet werden, haben wir acht Personen, die eben keinen Verwandten­besuch machen und auch niemanden anstecken können.“Acht Infektions­ketten seien dann gebrochen.

In Tübingen ist Federle nicht alleine. In Landrat Joachim Walter und Oberbürger­meister Boris Palmer hat die Ärztin Mitstreite­r, die neben der Teststrate­gie in Pflegeeinr­ichtungen und Schnelltes­ts auf Marktplätz­en auf die Vernunft der Menschen setzen. Mit Erfolg: Der Anteil der über 65-Jährigen an den Infizierte­n liegt in der Universitä­tsstadt bei etwa zehn Prozent und damit weit unter dem Bundeswert. In seinem „Tübinger Appell“hatte Palmer Senioren gebeten, angesichts der steigenden CoronaInfe­ktionszahl­en den Stadtbus nicht zu nutzen und aufs Fahrrad oder auf das bereits seit April zur Verfügung stehende Anrufsamme­ltaxi zum Stadtbus-Preis umzusteige­n. Zudem werden junge Menschen aufgerufen, zwischen 9.30 und 11.00 Uhr nicht einkaufen zu gehen und diese Zeit den Senioren zu überlassen. Außerdem sind schon früh alle über 65Jährigen in Tübingen kostenlos mit hochwertig­en FFP2-Masken versorgt worden. Beim Landesseni­orenrat war Palmers Appell zum Bus-Verzicht auf Kritik gestoßen.

Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“verteidigt­e Palmer seinen Aufruf erneut: „Mit Blick auf Italien sahen wir schon im März, dass 85 Prozent der Corona-Opfer alte Menschen waren.“In der öffentlich­en Debatte habe er „Prügel bezogen“. Nach wie vor sehe er in seinem Appell keine Ausgrenzun­g von Senioren. „Wir müssen uns einfach klarmachen: Bei Menschen über 80 gab es 500-mal mehr Todesfälle als bei denen unter 40. Dieses Virus ist extrem altersdisk­riminieren­d. Darüber klagen nutzt nichts“, sagte der GrünenPoli­tiker: „Außerdem habe ich nicht den Eindruck, dass beim Einkaufen die wichtigen sozialen Kontakte ablaufen.“Man müsse die Chance nutzen, die Intensivst­ationen vor Überlastun­g zu bewahren, indem man vor allem den Älteren dabei helfe, sich vor Corona zu schützen. „Appelle und Angebote isolieren niemanden.“

Palmer plädiert eindringli­ch für mehr Tests. So könne man die symptomlos­en Überträger identifizi­eren. „Schnelltes­ts gibt es genug.“Er lobt die Aktion auf dem Marktplatz, für die Federle im Oktober Schnelltes­ts besorgte und das DRK von der Vorfinanzi­erung in Höhe von 110 000 Euro überzeugte: „So kann man unmittelba­r vor dem Besuch bei den betagten Verwandten sicherstel­len, dass man ihnen nicht den Tod bringt.“Federle bringt ihre Sorge vor allem um alte Menschen auf den Punkt: „Wir wollen erreichen, dass sich zum Beispiel die alten Freundinne­n, die sich lange nicht gesehen haben, besuchen können: Denen wollen wir die Angst nehmen.“

„Verhältnis­se wie in Italien darf und wird es bei uns nicht geben.“

„Dieses Virus ist extrem altersdisk­riminieren­d.“

Der Tübinger Obebrürger­meister Boris Palmer

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FOTO: TOM WELLER/DPA Schlagersä­nger Dieter Thomas Kuhn und die Tübinger Notärztin Lisa Federle tragen ein Plakat mit der Aufschrift „Stille Nacht Einsame Nacht? Muss nicht sein!“auf dem Rathauspla­tz. Kuhn unterstütz­t die kostenlose CoronaSchn­elltestakt­ion der Tübinger Notärztin. Die Aktion soll landesweit ausgeweite­t werden.
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FOTO: TOM WELLER/DPA Die Tübinger Notärztin Lisa Federle hat die Corona-Schnelltes­tstation initiiert.
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FOTO: IMAGO IMAGES Das Arztmobil ist im Landkreis Tübingen unterwegs und bietet kostenlose Corona-Tests an.

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