Wenn die Passionsgeschichte auf das Heute trifft
Milo Raus Film „Das Neue Evangelium“kann über die Kinos gestreamt werden
Ein politischer Aktivist kämpft um die Würde von Geflüchteten, die in süditalienischen Tomatenfeldern schuften. Regisseur Milo Rau macht daraus – unter Rückgriff auf die Geschichte von Jesus Christus – eine Doku-Fiction. Der Kinofilm wird auch in Lockdown-Zeiten starten, allerdings digital. Zuschauer können in einem ausgewählten Kino ein Ticket kaufen und erhalten damit einen Link zum Streamen des Films.
In Matera reicht ein einziger Quadratkilometer für einen kompletten Jesusfilm. Die östlich von Neapel gelegene Stadt ist als Kulisse für Jesusfilme berühmt geworden. Pier Paolo Pasolini drehte hier einen Großteil von „Das 1. Evangelium – Matthäus“(1964), auch Mel Gibsons „Die Passion Christi“(2004) entstand überwiegend dort. Und jetzt „Das Neue Evangelium“: Theatermacher Milo Rau mischt die Passionsgeschichte mit einer halbfiktionalen Dokumentation.
Was für Pasolini Anfang der 1960er-Jahre die Lage des Subproletariats in Süditalien war, ist für Rau die Situation der Geflüchteten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben kamen und sich nun auf den Tomatenfeldern kaputtarbeiten. Der gebürtige Kameruner Yvan Sagnet spielt den schwarzen Jesus. Er kennt das mafiöse System der Agrarwirtschaft aus eigener Erfahrung. 2011 organisierte Sagnet den ersten Streik ausländischer Arbeiter in der italienischen Landwirtschaft. Inzwischen ist er Immigrationsbeauftragter des italienischen Gewerkschaftsbundes CGIL-Flai.
In „Das Neue Evangelium“vermischt sich der Politaktivist Sagnet mit dem Sozialrevolutionär Jesus, der seine Anhängerschaft an den Rändern der Gesellschaft rekrutiert. Worte aus der Bibel hallen in der Wirklichkeit wider, wenn sich die Kamera in die Unterkünfte der Geflüchteten begibt: aus Brettern und Plastikplanen notdürftig zusammengezimmerte Hütten, zerbeulte Autos, Müll. Es gibt weder Wasser noch Strom noch eine medizinische Versorgung, niemand besitzt eine Arbeitserlaubnis. Für 30 Euro am Tag ernten die Männer hier Tomaten und Orangen, viele der Frauen überleben nur mit Prostitution.
Die Frage, was Jesus tun und sagen würde, wenn er heute lebte, wurde immer wieder neu gestellt. Rau interessiert sich für die Jesus-Figur aber nur am Rande. So ist der in sich geschlossene Jesusfilm auch der am wenigsten überzeugende Part in „Das Neue Evangelium“. Interessanter wird es dort, wo die biblische Figur tatsächlich nur noch ein Zeichen im Zuge einer Protestbewegung ist. Etwa wenn „Jesus“und seine „Jünger“auf Tomaten herumtreten und im Supermarkt die Berge der viel zu billigen Tomatenkonserven zum Umsturz bringen.
Doch es gibt auch weniger überzeugende Szenen, die nicht in einen Kontext eingeflochten sind. Wie die, in der ein junger Italiener sich in einer rassistischen Beleidigungsorgie regelrecht verausgabt, In solchen Momenten offenbaren sich die eher unangenehmen Seiten von Raus Projekt: Das Interesse an Effekten ist oftmals größer als die differenzierte Betrachtung. (KNA)
Online-Kinoticket unter www.dasneueevangelium.de. Der Zuschauer wählt dort ein Kino aus, das 30 Prozent des Preises erhält, das Ticket kostet 9,99 Euro.