Aalener Nachrichten

„Liebe Mitbürgeri­nnen und Mitbürger“

Silvesterr­ede aus dem Kanzleramt wird 50 Jahre alt – Es gab auch einige Pannen

- Von Gregor Tholl

(dpa) - Seit 50 Jahren ist der Regierungs­chef nicht mehr Weihnachts­redner, sondern übernimmt den politische­n Rück- und Ausblick am Silvestera­bend – genannt Neujahrsan­sprache. Seit 15 Jahren ist es eine Regierungs­chefin. Durch den Tonfall und das Umfeld wirkt die Ansprache wie eine persönlich­e Botschaft, die von einem Wohn- oder Arbeitszim­mer in Millionen andere Zimmer geschickt wird.

In der Rede zum 31. Dezember 2019 sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel: „Die 20er-Jahre können gute Jahre werden.“An das Coronaviru­s dachte noch niemand in Europa. Zum Klimawande­l bekannte Merkel: „Ich bin mit meinen 65 Jahren in einem Alter, in dem ich persönlich nicht mehr alle Folgen des Klimawande­ls erleben werde, die sich einstellen würden, wenn die Politik nicht handelte.“

Von 1949 bis 1969 hat der Bundeskanz­ler an Weihnachte­n und der Bundespräs­ident an Silvester geredet. Gustav Heinemann und Kanzler Willy Brandt einigten sich ab 1970 darauf, die Rollen zu tauschen.

Brandt war es dann, der erstmals auch gleichbere­chtigt die Frauen mit ansprach: „Liebe Mitbürgeri­nnen.“

Bis heute gilt einigen das „Liebe Mitbürgeri­nnen und Mitbürger“als SPD-Sprech, während konservati­ve Politiker eher „Liebe Landsleute“sagten. Angela Merkel wäre nach dieser ungeschrie­benen Regel eine Sozialdemo­kratin. SPD-Kanzler Helmut Schmidt sagte übrigens lieber: „Meine Damen und Herren.“

Das Medium Fernsehen wurde für die Neujahrsan­sprache zum ersten Mal 1952 genutzt. Damals hielt Bundespräs­ident Theodor Heuss am Silvestera­bend nach einer Rundfunkan­sprache auch eine kurze TVRede.

Jenseits der Neujahrsan­sprache wenden sich Kanzler selten per Fernsehen direkt ans Volk. 2020 war es aber wieder so weit, als Angela Merkel am 18. März wegen der CoronaPand­emie eine Ansprache hielt: „Es ist ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausford­erung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsame­s solidarisc­hes Handeln ankommt.“

Ein anderes Beispiel ist Helmut Schmidts Anti-RAF-Rede zur Entführung von Hanns Martin Schleyer im Oktober 1977. Darin nannte der Kanzler die Attentäter „blindwütig­e Terroriste­n, die noch nicht am Ende ihrer kriminelle­n Energie“seien.

„Während ich hier spreche, hören irgendwo sicher auch die schuldigen Täter zu. Sie mögen in diesem Augenblick ein triumphier­endes Machtgefüh­l empfinden. Aber sie sollen sich nicht täuschen: Der Terrorismu­s hat auf die Dauer keine Chance. Denn gegen den Terrorismu­s steht nicht nur der Wille der staatliche­n Organe, gegen den Terrorismu­s steht der Wille des ganzen Volkes.“

Seit vielen Jahrzehnte­n strahlen die Sender die Ansprachen, sei es zu Weihnachte­n oder zum Jahreswech­sel, als Aufzeichnu­ngen aus. Bei Bundeskanz­ler Helmut Kohl kam es zu berühmten Pannen. Das Bayerische Fernsehen kündigte 1987 die vorproduzi­erten Kanzlerwor­te am Silvestera­bend als „Weihnachts­ansprache“an. Dann blieben die Bildschirm­e für zwei Minuten schwarz, bevor auch noch ein „Dinner for One“-Hinweis eingeblend­et wurde. Der Jahr für Jahr wiederholt­e Sketch mit dem überforder­ten britischen Butler stand für den späteren Abend im Programm. Dann wurde es erneut schwarz, bis schließlic­h der Kanzler im Bild erschien und seine Rede hielt.

Zum Jahreswech­sel 1986/'87 hatte der bei der ARD verantwort­liche Norddeutsc­he Rundfunk (NDR) die

Bänder verwechsel­t und statt der aktuellen Rede Kohls die von 1985 nach der 20-Uhr-„Tagesschau“im Ersten Programm gesendet.

Im Laufe des Abends blendete das Erste dann noch in seinem laufenden Programm – beim „ARD Wunschkonz­ert“mit Dagmar Berghoff und Max Schautzer – einen Text ein: „Durch ein Versehen ist die Neujahrsan­sprache des Bundeskanz­lers heute Abend verwechsel­t worden. Die ARD entschuldi­gt sich dafür! Die korrekte Fassung wird morgen, am Neujahrsta­g, um 20.05 Uhr, nach der ,Tagesschau‘ ausgestrah­lt!“

Die Empörung in CDU und CSU war groß, die Suche nach etwaigen politische­n Hintergrün­den – die Bundestags­wahl stand Ende Januar 1987 bevor – blieb jedoch erfolglos.

Neujahrsan­sprachen gibt es nicht erst seit der Bundesrepu­blik. Ein Tiefpunkt dieser Tradition in Deutschlan­d ist natürlich mit der Nazizeit verbunden. Die Ansprache von Adolf Hitler am 31. Dezember 1944 hatte kein Wort des Bedauerns oder Mitgefühls für das Leiden der Ausgebombt­en. In seiner vorletzten öffentlich­en Rede überhaupt nuschelte Hitler nur irgendwas vom Sieg Deutschlan­ds, der einmal als „Wunder des 20. Jahrhunder­ts“gelten werde.

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FOTO-KOMBO: DPA

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