Heimsuchungen
Am Sonntagmorgen ist die allwöchentliche Bach-Kantate eine liebgewordene Gewohnheit, auch am letzten Sonntag, dem 3. Advent. Auf dem Programm stand die Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“(BWV 147), von Bach ursprünglich geschrieben für den 4. Advent und später umgeschrieben für den 2. Juli zum Fest Mariä Heimsuchung, an dem des Treffens zwischen der schwangeren späteren Gottesmutter Maria und ihrer ebenfalls schwangeren Base Elisabeth gedacht wird. Das führte beim Gespräch am Frühstückstisch zu einer klaren Feststellung: Weil Johannes etwas älter war als Jesus, musste also die Schwangerschaft Elisabeths schon weiter fortgeschritten gewesen sein. Aber war sie deswegen
schwangerer? Natürlich nicht. Schwanger kann man nicht steigern. Damit ist dieses Adjektiv nicht allein. Nicht steigern lassen sich in der Regel: ganz, gleich, einzig, optimal, maximal, absolut, schriftlich, mündlich, wörtlich, hiesig, mutmaßlich, ledig, dreifach, viereckig, lebenslänglich,
sterblich, tot... Töter als tot geht nicht. Schriftsteller pflegen sich allerdings über solche Vorschriften schon mal hinwegzusetzen. „Alle Tiere sind
gleich, aber manche sind gleicher als die anderen“, heißt es in George Orwells antikommunistischer Fabel „Farm der Tiere“von 1945. Voll und
leer sind im Grunde auch nicht steigerbar. Will man allerdings einen Vergleich ziehen, was die Intensität angeht, so sieht es anders aus: „Die Kinos waren auch schon mal voller als derzeit“und „Die Straßen sind noch leerer als gewöhnlich“. Ähnlich liegt der Fall bei leblos: Im Satz „Er lag
leblos da“wäre eine Steigerung absurd. Im Satz „Der Strand lag lebloser da als gestern“ist der Komparativ jedoch möglich, weil hier eine übertragene Bedeutung ins Spiel kommt. Zusammengesetzte Adjektive mit einem verstärkenden Bestandteil wie blutjung, steinreich, riesengroß, altklug, strohdumm oder schneeweiß lassen sich auch nicht steigern. Und weitere Farbadjektive kennen ebenso keinen Komparativ: etwa orange, lila oder rosa. Das hindert manche Schwaben allerdings nicht daran, rosa zu steigern: „Mei Kloid isch rosaner wie deins“. Aber hierzulande pflegt man sich ja auch nicht darum zu scheren, dass die Steigerung von gern ein Sonderfall ist, nämlich gern – lieber – am
liebsten. „I mog Schpätzle gerner als Knepfle“gilt manchem am Neckar als korrekter Satz. Und selbst die Komparativ-Form von bald ist möglich: bälder im Sinn von früher.
Noch einmal zurück zur Heimsuchung, einem interessanten, weil doppeldeutigen Wort. Nur noch im Fall der Begegnung von Maria und Elisabeth aus dem 1. Kapitel des Lukas-Evangeliums verstehen wir darunter einen Besuch im positiven Sinn – übrigens lebt dieser Gang Marias zu ihrer Base außer in der BachKantate auch in Adventsliedern wie „Übers Gebirg Maria geht“oder „Maria durch ein Dornwald ging“fort. Später nahm der Begriff die Bedeutung einer göttlichen Prüfung, eines himmlischen Strafgerichts an, und genau mit diesem negativen Anklang gebrauchen wir ihn heute: Eine Heimsuchung ist schlichtweg ein Schicksalsschlag. Auch die aktuelle Zuspitzung der Corona-Pandemie wird mehr und mehr als Heimsuchung empfunden, gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit.
Da wir nun mal im Schwabenland leben, könnten wir sagen: Bälder war Weihnachten auch fröhlicher als dieses Jahr.
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