Jeder Dritte fürchtet Einsamkeit zum Fest
Corona-Krise verändert Weihnachten – Kretschmann verzichtet auf Familienfeier
- Lockdown unterm Christbaum: Angesichts der hohen Infektionszahlen mit dem Coronavirus werden viele Bürgerinnen und Bürger Weihnachten im kleinen Kreis verbringen. Entsprechend äußerte sich am Freitag auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Er werde infolge der Pandemie auf ein Familienfest verzichten und nur mit seiner Frau Gerlinde feiern. Nachdem in den vergangenen 40 Jahren stets Kinder und Enkel da gewesen seien, sei das „ein komisches Gefühl“, sagte er der „Stuttgarter Zeitung“. Am Christbaum werde sich die Familie per Video zusammenschalten. Dies sei nicht dasselbe, aber „eine tolle Möglichkeit“.
Dies sehen jedoch viele Bürger im Südwesten anders. Mehr als jeder Dritte sorgt sich, an den Festtagen in diesem außergewöhnlichen Jahr einsam zu sein. 34,0 Prozent befürchten, dass sie oder enge Angehörige Weihnachten aufgrund der Corona-Pandemie allein zu Hause verbringen müssen. Die Mehrheit der BadenWürttemberger (56,1 Prozent) teilt diese Sorge indes nicht. Das ergab eine Umfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit dem Online-Meinungsforschungsinstitut Civey. 9,9 Prozent sind in der Frage unentschieden.
Besonders groß ist die Angst bei Geschiedenen (39,1 Prozent), deutlich geringer bei Ledigen (32,4 Prozent) sowie Verheirateten und Verwitweten (32,6 Prozent). Dass sich vor allem ältere Menschen Sorgen machen, an den kommenden Festtagen allein zu Hause zu sein, zeigt die Erhebung jedoch nicht. Bei den über 65-Jährigen (33 Prozent) ist die Angst weniger ausgeprägt, als bei 40- bis 49-Jährigen (37,3 Prozent).
Generell verstärke die Pandemie die Tendenz, dass sich viele Menschen an Weihnachten einsam fühlen. Das sagt Martina Rudolph-Zeller, die Leiterin der Evangelischen Telefonseelsorge Stuttgart. Die größere Belastung lasse sich schon an der Anzahl der Anrufe ablesen. Weihnachten sei bei der Telefonseelsorge immer ein großes Thema, sagt sie, „dieses Jahr aber noch viel mehr als sonst.“Für viele seien die gewohnten Feiern nicht möglich. Dies führe oft zu Überforderung.
- Gabriela G. ist an Weihnachten alleine zu Hause. Die 58-Jährige lebt in einer Kleinstadt im Süden Baden-Württembergs. Sie kennt kaum jemanden dort. Vor einigen Monaten hat sich ihr Lebensgefährte von ihr getrennt. Wegen schwerer Lungenprobleme geht sie ohnehin nur noch selten vor die Tür. Jeder soziale Kontakt kann in der Corona-Pandemie zur Gefahr für sie werden. „Eine Infektion könnte tödlich für mich sein“, sagt sie. Trotzdem wünscht sie sich Gesellschaft. Die Einsamkeit, das Nachdenken über das vergangene Jahr, die fehlende Aufgabe, das alles sei schwer zu ertragen, sagt sie. „Ich bin nicht besonders religiös, aber Weihnachten ist die Zeit, zu der man Bilanz zieht und über das Leben nachdenkt. Ich habe Angst, in dieser Einsamkeit kaputtzugehen.“
Mit ihrer Angst ist Gabriele G. nicht allein. Mehr als ein Drittel der Menschen in Baden-Württemberg (34 Prozent) fürchtet sich davor, dass sie oder enge Angehörige Weihnachten alleine verbringen müssen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts „Civey“im Auftrag der „Schwäbischen Zeitung“. Die Sorge vor Einsamkeit an Weihnachten betrifft demnach fast alle Altersklassen gleichermaßen.
Das beobachtet auch Martina Rudolph-Zeller. Sie leitet die Evangelische Telefonseelsorge Stuttgart. Dass die Menschen in diesem Jahr unter einer größeren Belastung stehen, lässt sich schon an der Anzahl der Anrufe ablesen, die bei der Telefonseelsorge eingehen. Im vergangenen Jahr waren es in Stuttgart 15 000 Gespräche, diese Zahl war in diesem Jahr schon Anfang November erreicht. Da war der zweite Lockdown noch gar nicht in Sicht. Und auch die Weihnachtsfeiertage waren noch weit weg. „Weihnachten ist bei der Telefonseelsorge immer ein großes Thema“, sagt Rudolph-Zeller. „Dieses Jahr aber noch viel mehr als sonst. Konflikte werden schwieriger, lange war unklar, wie gefeiert werden kann, für viele sind bekannte, ritualisierte Feiern nicht möglich. Das erfordert viel Kreativität und es führt manchmal auch zu Überforderung.“
Wie aber berät man Menschen am Telefon, die Angst haben, die Feiertage alleine zu verbringen? RudolphZeller sieht die Telefonseelsorge vor allem als Wegweiser. „Wir geben keine konkreten Ratschläge. Wir hören zu, geben Raum, setzen vielleicht auch mal einen Impuls und versuchen, die Leute in die Lage zu versetzen, ihre Probleme selbst zu lösen.“Bei Einsamkeit helfe es, an der inneren Einstellung zu arbeiten, sagt Rudolph-Zeller. „Eine einsame Insel kann zum Beispiel mit Angst und dem Gefühl, von allen verlassen zu sein, verbunden sein. Die gleiche Insel kann aber auch mit positiver Einsamkeit verbunden sein, mit Ruhe und Entspannung. Die Situation ist die Gleiche, aber wie man sie anschaut, hängt mit der inneren Einstellung zusammen. Und die kann man verändern.“Das gelte auch für Weihnachten. „Ich kann dasitzen, mich grämen, weinen und mich total verlassen fühlen. Oder ich kann sagen: ,Hey, dieses Weihnachten lasse ich es mal ganz ruhig angehen. Ich lege mich in die Badewanne, koche etwas Gutes, telefoniere noch mit jemandem und mache es mir einfach schön’“, erklärt sie.
In Nicht-Corona-Zeiten gibt es noch andere Möglichkeiten, an Weihnachten nicht alleine zu sein. Seit 2017 vermittelt zum Beispiel Christian Fein in seiner Freizeit Kontakte zwischen Menschen, die Gesellschaft bieten und solchen, die Kontakte suchen. Schon in Jahren ohne Pandemie ist die Nachfrage an den Feiertagen groß. Im vergangenen Jahr etwa vermittelte seine Initiative #keinerbleibtallein mehr als 60 000 Menschen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum.
Seit dem Lockdown ist die aktive Vermittlung eingestellt. Statt echter Treffen vermittelt die Mannheimer Initiative jetzt virtuelle Begegnungen. Dabei wäre die Nachfrage in diesem Jahr besonders groß gewesen. „Die Einsamkeit nimmt zu“, stellt auch Fein fest.
Und es sind andere Menschen, die in diesem Jahr Kontakte suchen. „In den vergangenen Jahren haben sich eher 30- bis 50-Jährige in den typischen Lebensumbruchsituationen wie Scheidung, Umzug oder nach dem Verlust eines Angehörigen bei uns gemeldet“, erklärt er. „In diesem Jahr sind es viel mehr jüngere Menschen und eben auch solche, die normalerweise sozial gut situiert sind. Also Leute, die die Wochenenden auf Weihnachtsmärkten oder in Clubs verbracht hätten. Die orientieren sich jetzt neu und landen deshalb auch manchmal bei uns.“Trotzdem findet er, werde das mit der Einsamkeit
in diesem Jahr auch ein bisschen dramatisiert. Denn: Je größer die Gruppe der Einsamen ist, desto weniger leidet der Einzelne darunter. „Der enorm hohe Leidensdruck, den die Leute normalerweise haben, fällt gerade weg, weil kulturell und gesellschaftlich fast alles geschlossen ist. Man schaut sich jetzt nicht mehr um, ob der Nachbar gerade bei einer Feier ist. Man stellt eher fest, dass alle im selben Boot sitzen. Die Einsamkeit, die man empfindet, ist in diesem Jahr etwas Normales.“
Auch Gabriele G. will sich an Heiligabend über das Internet vernetzen. Mit fremden Menschen zwar, aber eben solchen, denen es ähnlich ergeht wie ihr. Um 20 Uhr, wenn in ganz Deutschland Menschen beim Essen oder am Weihnachtsbaum zusammensitzen, wird sie sich deshalb einloggen. Je nach Interesse stellt die Initiative #keinerbleibtallein verschiedene Videochats zur Auswahl. In einer Gruppe wird gesungen, in einer anderen zusammen gekocht. Gabriele G. aber will sich nur ein bisschen unterhalten. „Ich wünsche mir einfach ein bisschen Gesellschaft.“