Aalener Nachrichten

Müllers eindringli­cher Appell

Entwicklun­gsminister warnt vor Folgen der Pandemie

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(clak) - Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller wirft der internatio­nalen Gemeinscha­ft vor, in der CoronaKris­e das Leid der Flüchtling­e weltweit zu wenig im Blick zu haben. „Alles fokussiert sich auf die CoronaPand­emie und deren unmittelba­ren Folgen vor der Haustür. Die Not der Flüchtling­e scheint weit weg“, sagte Müller im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Dabei seien derzeit 80 Millionen Menschen auf der Flucht, „so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“.

Zugleich bezeichnet­e es der CSU-Politiker als „Schande“, dass sich insgesamt nur zehn Länder an der Finanzieru­ng weltweiter Solidaritä­t beteiligte­n. „Alle Staaten müssen beitragen“, forderte Müller.

- Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller befürchtet infolge der Corona-Pandemie schwere Rückschläg­e für die Menschen in ärmeren Weltregion­en. Gerade Flüchtling­e seien hart von der Krise betroffen, sagte der CSU-Politiker im Interview mit Claudia Kling. „Die Menschen müssen überleben – ohne Kurzarbeit­ergeld, Hartz IV oder irgendeine soziale Grundsiche­rung“, so Müller. Die Folge seien „Hunger, bittere Armut und Arbeitslos­igkeit“. Um das Elend dieser Menschen zu lindern, ruft der Entwicklun­gsminister Superreich­e dazu auf, sich finanziell an der Bewältigun­g der Krise zu beteiligen. „Ich denke an die großen Gewinner der Corona-Krise wie Amazon, Google, Facebook oder Apple“, sagte Müller.

Herr Minister Müller, bei einer Tagung über Kinder in Konfliktge­bieten sagte vor Kurzem eine syrische Referentin, für die Menschen in ihrem Land habe Corona keine Priorität, weil sich viele nicht einmal genügend Essen leisten könnten. Ist Corona in erster Linie ein Problem reicher Staaten mit durchschni­ttlich älterer Bevölkerun­g?

Für Syrien, für weite Teile des Iraks, insbesonde­re auch den Nordirak, sind die Folgen der Krise noch dramatisch­er als das Virus selbst: Hunger, bittere Armut und Arbeitslos­igkeit. In dieser Dauerkrise geht es für Millionen Menschen ums nackte Überleben. In Syrien geht der Krieg im März ins elfte Jahr. Der Libanon, der 1,5 Millionen syrische Flüchtling­e aufgenomme­n hat, steht vor dem Staatsbank­rott. Vor drei Monaten ereignete sich in Beirut eine riesige Katastroph­e, als große Teile des Hafens explodiert sind. Das hat genau für eine Woche internatio­nale Aufmerksam­keit gereicht. Seither sind die Scheinwerf­er ausgeblend­et, aber wir dürfen das Leid dieser Menschen nicht vergessen.

Auch aus den Flüchtling­scamps im Nordirak erreichen uns Nachrichte­n, dass den Menschen alle Einkommens­quellen weggebroch­en sind, weil sie sich nicht mehr als Tagelöhner verdingen können. Gleichzeit­ig schrumpft die staatliche Unterstütz­ung, da auch den Regierunge­n dort das Geld ausgeht. Haben das die Staaten im Westen im Fokus?

Durch die Corona-Krise fallen 130 Millionen Menschen weltweit in Hunger und bittere Armut zurück. Weil durch die Lockdowns Versorgung­sketten zusammenge­brochen sind, Nahrung und Medikament­e nicht mehr ankommen. Die Menschen müssen überleben – ohne Kurzarbeit­ergeld, Hartz IV oder irgendeine soziale Grundsiche­rung. Experten rechnen 2020 mit zwei Millionen zusätzlich­en Toten – nicht weil sie an Corona erkrankt wären, sondern weil ihnen Lebensmitt­el und Medikament­e für andere Krankheite­n wie Malaria, HIV und Tuberkulos­e fehlen. Das trifft natürlich ganz besonders die Flüchtling­e. Dazu kommt, dass humanitäre Organisati­onen wie das Welternähr­ungsprogra­mm nicht mehr so einfach in die Flüchtling­scamps und Dörfer kommen.

Und wie reagiert die internatio­nale Staatengem­einschaft darauf?

Zu wenig. Durch Corona ist das Flüchtling­sleid ins Hintertref­fen geraten. Alles fokussiert sich auf die Corona-Pandemie und deren unmittelba­re Folgen vor der Haustür. Die Not der Flüchtling­e scheint weit weg. Dabei hat sie sich in den vergangene­n Monaten dramatisch gesteigert. 80 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Deshalb haben wir die Zusammenar­beit mit den Hilfsorgan­isationen in den Flüchtling­scamps verstärkt – als Teil unseres weltweiten Corona-Sofortprog­ramms. So sichern wir das Überleben von Hunderttau­senden Frauen, Männern und Kindern.

Im Irak hat sich im vergangene­n Monat mit dem Abkommen zwischen der zentralira­kischen und der kurdischen Regierung über das Shingal-Gebiet eine Wende vollzogen. Die deutsche Regierung unterstütz­t seit Jahren die ShingalReg­ion. Wird das Abkommen tatsächlic­h mehr Sicherheit und somit vielleicht auch mehr Investitio­nen bringen?

Wir müssen abwarten, ob sich die Sicherheit­slage stabilisie­rt. Es gibt dort dramatisch­e Zerstörung­en, es fehlt an Wasser, Schulen, Krankenhäu­sern, überhaupt an Infrastruk­tur. Aber die Jesiden sind so heimatverb­unden, dass sie dennoch zurückwoll­en. Deswegen unterstütz­en wir ihre Rückkehr in enger Zusammenar­beit mit der kurdischen Regierung und der Zentralreg­ierung in Bagdad. Zwischenze­itlich hat Deutschlan­d 56 Schulen gebaut oder renoviert, 800 000 Kinder können wieder zur Schule gehen. In Mossul bauen wir ein Behelfskra­nkenhaus für CoronaPati­enten und bauen das Kinderkran­kenhaus aus. Und 700 000 Menschen nutzen schon das erneuerte Trinkwasse­rnetz. Vor allem helfen wir auch den traumatisi­erten Jesidinnen. Denn wir dürfen nicht vergessen, was war: Die Jesiden wurden 2014 Opfer eines Völkermord­s. Auch wenn die Welt von Covid-19 in Atem gehalten wird, muss dieses Unrecht juristisch aufgearbei­tet und gesühnt werden.

Welche Zukunft sehen Sie für die jesidische­n Flüchtling­scamps in der Nähe der kurdischen Stadt Dohuk? Dort ist in den vergangene­n Jahren ja viel passiert. Mit deutscher Hilfe wurden beispielsw­eise Schulen, Kläranlage­n und Spielplätz­e gebaut.

Nach wie vor leben 250 000 Binnenvert­riebene in den Camps. Von der jesidische­n Bevölkerun­g im Irak lebt über die Hälfte noch in dürftigen Zeltlagern, im besten Fall in Containern. Bis sie alle in das Shingal-Gebiet zurückkehr­en können, wird es dauern. Derzeit wissen wir von circa 30 000 Rückkehrer­n in den letzten Monaten. Doch auch wenn die Lebensverh­ältnisse in den Camps beengt sind, entstehen dort Zukunftspe­rspektiven: Die jesidische­n Mädchen und Jungen können dort sicher zur Schule gehen. Das ist in vielen Fällen eine bessere Ausgangspo­sition als in den Heimatdörf­ern. Für diese Kinder und Jugendlich­en ist die

Rückkehr in das Shingal-Gebiet nicht unbedingt erste Priorität, wenn es dort keine Bildungsch­ancen gibt. Sie träumen von Arbeit und Aufstiegsc­hancen. Das ist ja absolut verständli­ch.

Sehen Sie eine Chance, dass dieser Bildungsau­fbruch auch im ShingalGeb­iet weitergefü­hrt werden kann?

Wenn es gelänge, den Krieg in Syrien endlich zu beenden, könnte der Nordirak relativ rasch wieder zu der wirtschaft­lich prosperier­enden Region werden, die er vor einigen Jahren war. Aber momentan ist das Shingal-Gebiet eine vom Krieg zerstörte Region. Die älteren Jesiden haben ihre Wurzeln dort, deshalb nehmen sie dies in Kauf. Es könnte jedoch zu einem Generation­enbruch kommen, wenn die jüngeren, die nicht an das frühere Leben gebunden sind, nicht mehr in diese Dörfer und die althergebr­achten Strukturen zurückwoll­en.

Wie schwierig ist es für einen Entwicklun­gsminister in Corona-Zeiten, Gehör – und vielleicht auch Geldmittel – für Themen zu finden, die außerhalb des europäisch­en Blickwinke­ls liegen?

In Deutschlan­d haben wir diese Themen im Blick – und ein Zeichen gesetzt mit einem drei Milliarden Euro Corona-Sofortprog­ramm für Entwicklun­gsund Schwellenl­änder. Doch das reicht nicht – alle Staaten müssen beitragen. Dem Welternähr­ungsprogra­mm fehlen rund fünf Milliarden Dollar. Deshalb wurden beispielsw­eise im Jemen bereits die Essensrati­onen halbiert. Die Finanzieru­ng der weltweiten Solidaritä­t und der Hilfsorgan­isationen liegt auf den Schultern von nur zehn Ländern! Das ist eine Schande und muss sich ändern.

In Ländern wie dem Irak, dessen Gesundheit­sversorgun­g ziemlich am Boden ist, könnten Impfungen gegen Corona dazu beitragen, dass die Menschen wenigstens ihren Lebensunte­rhalt wieder selbst verdienen können. Doch die meisten Impfstoffd­osen für 2021 haben sich die reichen Staaten gesichert. Ist das die Solidaritä­t, von der immer wieder die Rede war?

Offensicht­lich haben einige Regierunge­n vergessen, dass wir Corona nur weltweit oder gar nicht besiegen. Selbst wenn wir in Deutschlan­d und Europa die Corona-Pandemie mit einer Impfkampag­ne in den Griff bekommen, würde das Virus morgen mit einem Flieger zurückkomm­en. Auch deshalb ist es so wichtig, dass die Entwicklun­gsländer an einer Impfkampag­ne teilhaben. UN-Generalsek­retär Antonio Guterres, der am Freitag im Bundestag zum 75. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen gesprochen hat, beziffert die Finanzieru­ngslücke auf knapp 30 Milliarden Dollar. Das ist ein riesiger Betrag, aber für die Weltgemein­schaft ist das machbar. Zum Vergleich: Die US-Amerikaner haben in diesem Jahr inmitten der Krise ihren Verteidigu­ngshaushal­t um 55 Milliarden Dollar erhöht. Zudem müssen wir einen Weg finden, dass die Superreich­en, die von dieser Krise immens profitiere­n, sich auch an der Krisenbewä­ltigung beteiligen.

Wen haben Sie da im Blick und wie wollen Sie diese Menschen dazu bewegen, sich finanziell zu engagieren?

Ich denke an die großen Gewinner der Corona-Krise wie Amazon, Google, Facebook oder Apple. Allein Amazon-Chef Jeff Bezos ist in den vergangene­n Monaten um rund 70 Milliarden Dollar reicher geworden. Und bei uns in Deutschlan­d leidet der Einzelhand­el unter der Krise. Mein Vorschlag wäre, dass diese Superreich­en einen Teil der Gewinne einbringen und die internatio­nale Impfplattf­orm Covax und das Welternähr­ungsprogra­mm unterstütz­en, so dass die Welt schneller aus der Krise kommt. Das kann natürlich nur über Appelle funktionie­ren. Aber es gibt sie ja bereits, die Milliardär­e, die ihr Vermögen für humanitäre Zwecke ausgeben – denken Sie an die Stiftung von Bill und Melinda Gates. Auch in Deutschlan­d finden sich reiche Menschen, die hohe Millionenb­eträge ihres Privatverm­ögens für die Bekämpfung der Folgen der Corona-Krise einsetzen.

Hilfsorgan­isationen fordern, den Patentschu­tz vorübergeh­end auszusetze­n, um auch ärmeren Ländern einen Zugang zum CoronaImpf­stoff zu ermögliche­n. Doch dies wird unter anderem von der EU bislang abgelehnt. Ist das für Sie nachvollzi­ehbar?

Es ist absolut nachvollzi­ehbar, dass erstmal an die eigene Familie, das eigene Land gedacht wird. Aber es wäre ein Trugschlus­s, wenn wir es dabei belassen. Dass Pharmaunte­rnehmen wie Moderna jetzt anbieten, auf Patentrech­te zu verzichten, ist ermutigend. Die Weltgesund­heitsorgan­isation arbeitet daran, lizensiert­e Impfstoffe für ärmere Länder zur Verfügung zu stellen. Indien und Südafrika werden auch bald imstande sein, Impfstoffe zu produziere­n. Das sind positive Entwicklun­gen. Für die europäisch­e Bevölkerun­g hat die EU bereits 1,5 Milliarden Impfdosen reserviert. Es muss also in Deutschlan­d niemand Angst haben, dass hier die Dosen knapp werden könnten, wenn auch Ärzte und Krankensch­western in ärmeren Ländern gegen Corona geimpft werden. Zumal dort auch andere Formen von Impfstoffe­n notwendig sind.

Wann werden Sie sich selbst impfen lassen, damit die Entwicklun­gszusammen­arbeit vom Schreibtis­ch aus ein Ende nehmen kann?

Ich lasse mich impfen, sobald ich dran bin. Und dann freue ich mich darauf, im neuen Jahr endlich Afrika wieder besuchen und mit den Menschen sprechen zu können.

Ziel unseres Projektes ist, ...

... zusammen mit der Initiative „Kommunales Know-how für Nahost“des Bundesentw­icklungsmi­nisteriums Kommunen im Libanon bei Fragen der Daseinsvor­sorge sowie bei der Unterbring­ung und Versorgung von geflüchtet­en Menschen aus Syrien zu unterstütz­en. Durch die libanesisc­he Staatskris­e und die Auswirkung­en der CoronaPand­emie weitet sich die Hilfe auch mehr und mehr auf die bedürftige einheimisc­he Bevölkerun­g aus.

Mit der finanziell­en Hilfe durch die Spenden der Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“soll im Jahr 2021 ...

... zunächst wiederum die Lebensmitt­elversorgu­ng von Not leidenden Menschen gesichert werden. Daneben unterstütz­en wir den Aufbau einer ehrenamtli­chen Nachbarsch­aftshilfe.

Für die Zukunft unseres Projektes hoffen und wünschen wir uns, ...

... dass wir auch in den kommenden Jahren unseren libanesisc­hen Freunden mit Solidaritä­t und Partnersch­aft auf gleicher Augenhöhe helfen können, die unglaublic­hen Aufgaben zu bewältigen. Unsere Arbeit bedeutet sicherlich nur einen Tropfen auf den sprichwört­lich heißen Stein und trotzdem ist sie so wichtig für Völkervers­tändigung und Frieden. (msc)

’’ Paul Locherer, Vorsitzend­er des Vereins Füreinande­r – Miteinande­r in Amtzell

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FOTO: UWE STEINERT „Durch die Corona-Krise fallen 130 Millionen Menschen weltweit in Hunger und bittere Armut zurück“, sagt Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller (CSU). Durch die Lockdowns seien Versorgung­sketten zusammenge­brochen, Nahrung und Medikament­e kämen nicht mehr dort an, wo sie gebraucht werden.
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FOTO: CLAUDIA KLING Der Bundesentw­icklungsmi­nister vor den Trümmern der irakischen Stadt Mossul. Im April 2018 machte sich Gerd Müller selbst ein Bild von den Zerstörung­en im Irak. Inzwischen läuft der Wiederaufb­au.
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