Tragödie am Himmelhorn
Vor mehr als 60 Jahren starben drei Brüder beim schlimmsten Bergunglück in der Geschichte Oberstdorfs – Wie der Tod der gläubigen jungen Männer das Leben ihrer Familie bis heute prägt
Der Sonntag, an dem für Familie Krebs eine Welt zusammenbrach und eine neue begann, lockte wie ein Versprechen. Am Himmel prangten die letzten Sterne, die Bergluft war frisch und klar, und in der Morgendämmerung schimmerten die Gipfel rund um Oberstdorf wie freundliche Riesen.
Endlich war er gekommen, der perfekte Spätsommertag, auf den die drei Brüder Martin, 21, Walter, 19, und Richard Krebs, 18, gewartet hatten. Kurz vor dem Aufstieg rückten sie ein letztes Mal in ihrer Kammer im elterlichen Anwesen zusammen. Sie lasen in der Bibel, knieten nieder zum Gebet. Wie jeden Morgen stärkten sich die drei jungen Männer mit der Losung aus dem christlichen Buch „Lichtstrahlen“für die anstehenden Aufgaben. Jene, die sie sich am 2. September 1956 vorgenommen hatten, war besonders mächtig.
Die drei nahmen eine der schwierigsten Routen im Allgäu in Angriff. Sie wollten über den gefürchteten Rädlergrat hinauf zum 2111 Meter hohen Steilgrasgipfel des Himmelhorns. Niemand aus ihrer Familie ahnte, dass sie diese Variante wählten. Vermutlich hätten ihre Eltern den Aufstieg verboten. Um sechs Uhr brachen sie mit ihren Rädern in Richtung Oytal auf.
Was die drei verband: Wagemut, Gottvertrauen, der Wunsch, bald in der Bergwacht anderen Menschen zu helfen, und ein 30 Meter langes Hanfseil. Zwei sichern, einer klettert – so hatten sie es gelernt.
Wer von den dreien in der letzten, alles entscheidenden Wand voranstieg, ist bis heute nicht geklärt. Im Grunde spielt es auch keine Rolle mehr. Denn die Männer, die mit ihren blonden Haaren, den schmalen Figuren und dem fröhlichen Lachen kaum zu unterscheiden waren, bildeten eine eingeschworene Einheit. Die beiden redegewandten älteren Brüder Martin und Walter wollten ab Herbst an einer Missionsschule studieren; der stille Richard hatte zugesagt, sie mit seinem Verdienst als Maurer zu unterstützen.
Der Herr war ihr Hirte. Selbst auf Bergtouren hatten sie Faltblätter mit christlichen Texten im Rucksack. Diese verteilten sie bevorzugt an Wanderer, die unterm Gipfelkreuz schon mittags eine Halbe Bier tranken oder Tabak in ihre Pfeife stopften. Die einzige Prise, die sich die drei trotz ihres missionarischen Eifers gönnten, war: Humor. Ältere
Oberstdorfer erinnern sich noch heute daran, wie die jodelnden Brüder norddeutsche Touristen foppten, wenn sie ihnen schilderten, wie Gamsen in den Allgäuer Alpen ihre Eier ausbrüten.
An jenem Sonntag, der wie ein Versprechen begann und mit dem größten Verhängnis in der Geschichte der Oberstdorfer Bergunglücke endete, verstummte das Lachen der drei für immer. Wenige Meter vor dem Ziel am Himmelhorn stürzte die brüderliche Seilschaft ab.
Über die Umstände wird bis heute spekuliert: Glitt einer der Brüder an einem feuchten Stein oder an einem lockeren Grasbüschel ab? Machte der Erste einen Fehler, als er Haken in die poröse Felswand schlug? Die Antwort trug der Bergwind davon. Die Brüder fielen 300 Meter in die Tiefe.
Erst in den Abendstunden des darauffolgenden Tages wurden ihre Leichen gefunden. Heillos verwickelt im Seil, aufs Innigste verbunden bis in den Tod. „Das Traurigste, was ich je gesehen habe“, vertraute ein Bergwachtler Jahre später einem Freund an.
Grauenvolle Momente erlebte derweil die Familie Krebs in Oberstdorf. Zwei rote Leuchtkugeln am Himmel, abgeschossen vom Suchtrupp der Bergwacht, überbrachten den im Tal Verbliebenen die Nachricht vom Tod zweier Brüder. Inmitten des Elends keimte kurzzeitig Hoffnung auf: Zumindest einer hatte überlebt! Mein Gott, wer wird es sein? Dann machte die religiöse Familie die Erfahrung, dass auch Himmelssignale irren können. Wegen technischer Probleme stieg keine dritte rote Leuchtkugel auf, erinnert sich der langjährige Bergwachtler und Oberstdorfer Chronist Eugen Thomma, 89.
Alle im Dorf fragten sich: Wie werden die Eltern die Tragödie verkraften? Thomma, selbst Vater von drei Kindern, sagt: „Ich hätte mit dem Gedanken gespielt, mir eine Pistole zu nehmen.“
Doch im Fall der Eltern Hans und Rosa Krebs kam alles anders. Das hat mit einer Botschaft zu tun, die die drei Brüder ihren Eltern und der Nachwelt hinterließen.
„Wir bitten dich. Nimm und lies.“Die Inschrift steht auf einem gusseisernen Kasten am Grab der Brüder in Oberstdorf. Ihre letzte Ruhestätte liegt am äußersten Rand des Waldfriedhofs. Ein paar Meter weiter, hinter der kurz gestutzten Hecke, geht der Blick gen Himmel: Über allem thronen die schneebedeckten Gipfel von Rubihorn und Schattenberg im Sonnenschein. Mal ehrlich: Kann das Paradies viel idyllischer sein?
Wer die Klappe des Kastens öffnet, findet darin Faltblätter zum Thema Tod und Glauben. Traktate hießen sie früher. Damals, als man sie in den Taschen der abgestürzten Brüder fand. „Frieden finden“ist eines davon überschrieben. Darin wird ein Versprechen von Jesus zitiert: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“Gilt fürs Leben und im Sterben, erklärt ein Text. Kann das der Trost sein für den Tod von drei jungen Menschen mit allem Anschein nach goldenen Herzen?
Der 6. September 1956 ging als schwarzer Tag in die Geschichte Oberstdorfs ein. Das Dorf trug Trauer. Um 14.30 Uhr reihten sich die Menschen in Schlangen am Waldfriedhof. Jeweils vier Bergwachtler trugen die Särge von Martin, Walter und Richard von der Aussegnungshalle zum frisch ausgehobenen Grab. Die drei jungen Männer wurden als erste Familienmitglieder dort hinabgelassen.
Wenn man einen Film über die Zeremonie drehen wollte, würde die
Kamera wohl genau jetzt das Gesicht ihres Vaters einblenden. Wie muss es Hans Krebs ergangen sein? Jenem hageren, damals 54-jährigen Protestanten, ohne dessen Entscheidung das Schicksal niemals hätte seinen Lauf nehmen können.
Viel wussten die Menschen im Dorf bis dato nicht über ihn. Vor allem galt er als fleißig. Er war Töpfer, Ofensetzer, Fliesenleger, Tierzüchter, Tierbestatter, Betriebsleiter, Maschinist, Marathonläufer. Gebürtig stammte er aus Gunzenhausen im Altmühltal. Doch es waren weder geschäftliche noch sportliche Interessen, die ihn nach Oberstdorf verschlagen hatten. Es war der Glaube. Die Botschaft Jesu, die er in einer Predigt gehört hatte: „Verkaufe alles, was du hast, und folge mir nach.“Nachdem er über einen Bekannten von einem leer stehenden Anwesen in Oberstdorf erfahren hatte, ließ er es ab 1954 in ein christliches Jugendheim umbauen. Im Februar 1956 zog er mit seiner Frau und acht Kindern um.
Sieben Monate später riss das Schicksal drei seiner Söhne aus dem Verbund. Ausgerechnet im beschaulichen Allgäu, das der Vater entgegen seinem ursprünglichen Ziel – Namibia – auserkoren hatte.
Drei Wochen nach dem Tod der Brüder erhielten die Hinterbliebenen überraschend Besuch. Ein Bergsteiger fand einen stark beschädigten Fotoapparat in der Nähe der Unglücksstelle. Die Eltern erkannten die Kamera sofort. Sie ließen den unbeschädigten Film entwickeln. Als sie die Fotos in der Hand hielten, erlebten Hans und Rosa Krebs einen Gänsehautmoment, von dem sie bis an ihr Lebensende erzählten. Die Bilder zeigen ihre Söhne inmitten der wunderbaren Allgäuer Alpen. Heiter, gelöst, mit sich und der Welt im Reinen. Ein Teil der 32 Farbfotos entstand kurz vor dem Unglück.
Die Eltern sahen darin eine tiefere Bedeutung. Inmitten ihrer Verzweiflung spürten sie, dass ihr Leben weitergehen musste. Vielleicht dachten sie an die biblische Figur von Lots Frau aus dem Alten Testament. Nachdem ihr Zuhause in Sodom zerstört wurde, ist sie unfähig, wie ihr aufgetragen, nach vorne zu blicken – und erstarrt zur Salzsäule.
Hans Krebs, der umtriebige Vater, erstellte aus dem Foto-Fundus seiner
Söhne einen Diavortrag, den er fortan bei Freizeiten im christlichen Jugendheim zeigte. Die jungen Gäste waren ergriffen, wenn er ihnen am Beispiel seiner verunglückten Söhne vor Augen führte, wie schnell das Leben zu Ende sein kann.
Und sie waren beeindruckt, von der Stärke des Hinterbliebenen, sein Schicksal zu akzeptieren und Frieden darin zu finden, dass seine drei Buben „in Gottes Arme fielen“. Mit einem Mal erschienen ihnen die eigenen Probleme als geradezu banal im Vergleich zu dem, was das Ehepaar Krebs durchlebte.
Am Schluss seines Diavortrags stellte Hans Krebs Fragen. „Was ist, wenn euch etwas passiert? Habt ihr Heilsgewissheit?“Oder: „Bist du getrost, wenn Gott dein Leben abschließt?“
Friedhelm Krebs kann sich noch gut an diese Worte seines 1983 verstorbenen Opas erinnern. Sie haben auch ihn geprägt. Der 55-Jährige leitet heute mit seiner Frau Kornelia das christliche Freizeitheim mit 46 Betten in der Nähe des SkisprungStadions. Wegen der Corona-Krise steht das Haus derzeit leer. Doch viele Gäste halten in Gedanken die Treue. Sie schreiben E-Mails und Karten, sagen ihre Unterstützung zu: „Wir lassen Euch nicht allein!“Friedhelm Krebs, Betriebswirt und ehrenamtlich im Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde aktiv, ist ein Neffe der verunglückten Brüder. Sein Vater Siegfried war der Jüngste der acht Geschwister und prägte den Spruch, wonach aus der Tragödie am Himmelhorn „auch viel Segen erwachsen ist“.
Eine Kopie des Diavortrags über Leben und Tod der Brüder wurde bis in die 1980er-Jahre in evangelischen Gemeinden vorgeführt und weitergereicht. Sogar bis in die damalige DDR. Ein Freund der Familie, der Theologe Arno Pagel aus Kassel, schrieb ein Büchlein über die „Drei am Himmelhorn“, das bis 2007 erschien und 138 000-mal verkauft wurde. Durch internationale Verbindungen des Jugendverbandes „Entschieden für Christus“, den Pagel selbst viele Jahre leitete, fand es deutschsprachige Leser bis nach Kanada, Russland und: Namibia.
Viele Menschen berührte das Büchlein, auch wenn es für heutige Leser in seinem frohlockenden Eifer wie aus der Zeit gefallen scheint. Pagel ging es vor allem darum, „den Herrn zu preisen, der auf junges, unfertiges Leben seine Hand legt und Spuren seiner Gnade darin leuchten lässt“.
Auch Friedhelm Krebs tut sich mit Sprache und Pathos des Büchleins schwer. Als Jugendlicher, gibt er unumwunden zu, empfand er die ständige Präsenz des Todes seiner Onkel manchmal wie eine Bürde. Obwohl sich die Lippen der drei verunglückten Brüder längst geschlossen hatten, schienen sie zu allen zu sprechen. Besonders an den jährlichen Gedenkgottesdiensten, die bei Wind und Wetter unter freiem Himmel am Himmelhorn stattfanden.
„Die eigentliche Dimension und Botschaft“, erzählt Friedhelm Krebs, „habe ich erst später erkannt. Und dann ganz intensiv im Jahr 2017.“Erneut ging es dabei um ein Unglück. Vor drei Jahren ertrank sein Vater im Freibergsee. Auf den unerwarteten Tod des 78-Jährigen reagierte er mit „Unverständnis, Trauer und Hilflosigkeit“. Im Gebet richtete sich Friedhelm Krebs wieder auf: „Gehalten vom Glauben“, wie er es nennt, konnte er den Verlust des Vaters annehmen.
Als Hans und Rosa Krebs am Tag des Verschwindens nach ihren Söhnen suchten, fanden sie in deren verlassener Kammer eine aufgeschlagene Bibel. Sie gab den Text preis, den die drei kurz vor ihrem Aufbruch gelesen hatten: Offenbarung des Johannes, 7, Vers 9 bis 17. Er handelt von der großen Schar, die sich vor dem Thron Gottes versammelt. Ihre Mitglieder in weißen Kleidern tragen Palmen in den Händen und Hoffnung in den Herzen.
„Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze; denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“
Der Familie Krebs hat es geholfen, in dieser Bibelstelle mehr zu sehen als eine fantasievolle Geschichte.
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Bist du getrost, wenn Gott dein Leben abschließt?
Eine Frage, die Hans Krebs Jugendlichen stellte, nachdem sie den Diavortrag mit Bildern seiner Söhne gesehen hatten