Aalener Nachrichten

Dramatisch­e Verluste

In jedem Jahrzehnt büßt Deutschlan­d fast zwei Prozent seines Artenreich­tums bei Pflanzen ein

- Von Roland Knauer

Wenn einst im Sommer das reifende Getreide im Wind wogte, blitzten auf den Feldern etliche blaue oder rote Punkte im Sonnensche­in, von denen sich jeder einzelne bei näherem Hinschauen als Feld-Ritterspor­n oder Klatschmoh­n entpuppte. Diese Farbenprac­ht ist schon lange verschwund­en, die Blüten sind dem Einheitsge­lb der Ähren gewichen. Betroffen sind aber keineswegs nur der knallrote Klatschmoh­n, sondern auch viele andere Pflanzen: David Eichenberg vom Deutschen Zentrum für integrativ­e Biodiversi­tätsforsch­ung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig und dem HelmholtzZ­entrum für Umweltfors­chung – UFZ und seine Kollegen berichten in der Zeitschrif­t „Global Change Biology“von dramatisch­en Verlusten: 71 Prozent der untersucht­en 2136 Pflanzenar­ten sind seit den 1960er-Jahren deutschlan­dweit auf dem Rückzug. Die restlichen 29 Prozent sind zwar auf dem aufsteigen­den Ast, können aber die Verluste keineswegs ausgleiche­n. Deutschlan­d hat in jedem Jahrzehnt 1,9 Prozent seines Artenreich­tums bei Pflanzen eingebüßt.

Zwar klagen Naturschut­zverbände bereits seit vielen Jahren über erhebliche Verluste bei der Pflanzenvi­elfalt. Nur gab es dazu lediglich Untersuchu­ngen in bestimmten Gebieten. Und natürlich die Roten Listen

der gefährdete­n Arten. „Eine deutschlan­dweite quantitati­ve Analyse aber fehlte bisher“, erklärt Biodiversi­tätsforsch­er Florian Jansen von der Universitä­t Rostock, der an der Studie mitarbeite­te. Koordinier­t von Eichenberg haben die Wissenscha­ftler genau das jetzt nachgeholt. Und das nicht nur für die gefährdete­n Arten, sondern für den größten Teil der in Deutschlan­d wachsenden Arten.

Beim Bundesamt für Naturschut­z in Bonn und den Naturschut­zbehörden der 16 Bundesländ­er sammelten die Forscher erst einmal alle vorhandene­n Daten zum Thema. Am Ende warteten in den Computern 29 Millionen Vorkommen von Pflanzen darauf, ausgewerte­t zu werden.

Dafür teilten die Forscher die Landesfläc­he Deutschlan­ds in ein riesiges Netz aus kleinen Flächen auf, die fünf Kilometer lang und ebenso breit sind. Danach analysiert­en die Forscher, wie viele Pflanzen der verschiede­nen Arten auf diesen Flächen wachsen und wie sich deren Bestand in der Zeit seit den 1960erJahr­en verändert hat. Immerhin verschwand in diesen knapp sechs Jahrzehnte­n bis zum Jahr 2017 keine einzige der untersucht­en Pflanzenar­ten aus allen Rasterfläc­hen, es gab keine Totalverlu­ste. Das war dann auch schon die einzige gute Nachricht.

In den drei Jahrzehnte­n von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre zeigt die Analyse dann einen starken Rückgang der Pflanzen, die seit Jahrtausen­den in Deutschlan­d heimisch sind. Dazu gehören auch einige Arten wie der Feld-Ritterspor­n und der Klatschmoh­n, die mit den ersten Bauern nach Mitteleuro­pa kamen und die auch heute noch in Getreidefe­ldern, auf den Streifen am Rande der Äcker oder am Straßenran­d wachsen. Da sich die Samen dieser Arten nur sehr schwer von den Getreidekö­rnern abtrennen lassen, wurden sie früher sehr häufig ungewollt zusammen mit dem Getreide ausgesät. Kein Wunder, wenn die Felder einst mit deren blauen und roten Blüten übersät waren. Als moderne Methoden dann das Saatgut besser reinigten und vielerorts verstärkt Agrarchemi­kalien eingesetzt wurden, begann nicht nur für den Mohn und noch viel stärker für den Ritterspor­n, sondern für viele andere Pflanzen der Abstieg. „Zumindest vermuten wir einen solchen Zusammenha­ng, den wir bald auch genauer untersuche­n wollen“, erklärt iDivForsch­er Eichenberg.

Ab den 1990er-Jahren verlangsam­te sich dieser Rückgang der alteingese­ssenen Pflanzen allerdings deutlich. „Vermutlich griffen dann Naturschut­zmaßnahmen“, überlegt Eichenberg. Gleichzeit­ig aber begann mit den Neophyten eine andere Pflanzengr­uppe Boden zu gewinnen. Mit diesem Begriff bezeichnen Biologen die Pflanzen, die erst mit Schiffen nach Europa kamen, nachdem Columbus 1492 Amerika erreicht hatte. „Diese Neuankömml­inge breiten sich in der Umgebung großer

Verkehrswe­ge wie Autobahnen und Bahnlinien oder aber auch in der Nähe von Häfen wie zum Beispiel in Hamburg aus“, erklärt Eichenberg. Andere Pflanzen kommen aus dem wärmeren Südosten Europas über das Donautal langsam nach Mitteleuro­pa. Das geschieht allerdings wohl bereits seit Langem. Aber erst, seit der Klimawande­l die Temperatur­en in die Höhe treibt, haben die oft an wärmere Regionen gewöhnten Pflanzen hierzuland­e auch längerfris­tig gute Chancen. „In milden Regionen wie im Donautal rund um Passau oder auch am Niederrhei­n können sich dann Hotspots solcher Neophyten bilden, aus denen heraus sie sich weiter ausbreiten“, nennt Eichenberg die Ergebnisse anderer, kleinräumi­ger Untersuchu­ngen. Diese Ausbreitun­g der bisweilen ungeliebte­n und das Ökosystem manchmal sogar bedrohende­n Neuankömml­inge aber reicht bei Weitem nicht aus, um den raschen Schwund der Alteingese­ssenen auszugleic­hen. Das Artensterb­en geht also weiter.

Wie dramatisch sich dieser Rückgang auswirkt, beschreibt Florian Jansen von der Universitä­t Rostock: „Auf den Grünfläche­n im Nordosten Deutschlan­ds, die einst durch das Entwässern von Niedermoor­en entstanden sind, wachsen heute auf einem Quadratmet­er sechs oder sieben verschiede­ne Arten“, erklärt der Forscher. Ähnliche Werte finden sich auf den oft mit Gülle überdüngte­n Flächen im Nordwesten

Deutschlan­ds. „Werden solche Flächen nachhaltig bewirtscha­ftet, wachsen dort unter Umständen zehnmal mehr Arten“, erklärt Jansen. Spitzenwer­te liegen sogar bei über hundert Arten pro Quadratmet­er.

Alarmieren­d für die Forscher ist allerdings keineswegs nur der weitere Rückgang der ohnehin seltenen Arten. „Besonders besorgnise­rregend ist der Niedergang bei den Allerwelts­arten“, berichtet Eichenberg. „Da alle Pflanzen aus Licht, Luft und Wasser Biomolekül­e produziere­n, bilden sie die Fundamente unserer Ökosysteme“, erklärt der iDiv-Forscher weiter. So knabbern an den reichlich, aber mit deutlich abnehmende­r Tendenz vorkommend­en Arten viele Insekten, die ihrerseits wiederum die wichtigste Babynahrun­g für viele Vögel sind. Bröckeln mit den Allerwelts­arten also die Fundamente der Ökosysteme, beginnt leicht auch die Artenvielf­alt bei Insekten und Spinnen zu schwinden. „Bei uns geht es inzwischen ans Eingemacht­e“, behauptet Eichenberg.

Um diesen dramatisch­en Schwund alteingese­ssener Pflanzenar­ten zu stoppen, hat Florian Jansen einen Vorschlag an die Politik: „Die Unterstütz­ung der Landwirte müsste auf Maßnahmen zu mehr Artenreich­tum umgeleitet werden“, meint der Forscher aus Rostock. So könnte man die Bauern fördern, die ihre Getreidefe­lder weniger stark düngen. „Dann kommt zwar eine Vielzahl anderer Unkräuter hoch, die zusammen aber nur wenig Schaden anrichten und die Ernte nur geringfügi­g mindern“, erklärt Jansen weiter.

In der Praxis orientiere­n sich die Agrarförde­rungsprogr­amme allerdings auch in grün-regierten Bundesländ­ern wie Baden-Württember­g vor allem an den Forderunge­n der Landwirtsc­haft und kaum am Artenschut­z. „Da gibt es zwar Förderunge­n für Ackerrands­treifen, auf denen allerdings statt einheimisc­her Pflanzen viele bunt blühenden Exoten ausgesät werden“, erklärt der Vegetation­sökologe Reinhard Böcker von der Universitä­t Hohenheim, der beim Naturschut­zverband Nabu in Baden-Württember­g Fachbeauft­ragter für Botanik ist. „Oft gibt es aber nicht einmal mehr solche Randstreif­en und es wird bis an die Betonkante der Feldwege gepflügt“, schildert der emeritiert­e Forscher die Situation. Vielerorts fehlen heute daher in Baden-Württember­g die typischen Strukturen zwischen den Feldern und Wiesen wie Hecken und Ackerrands­treifen, die einst die Artenvielf­alt förderten. Auch die Wiesen werden kräftig gedüngt, um sie häufiger mähen zu können. „Das halten aber anstelle der einst 25 bis 30 Arten auf den weniger intensiv bewirtscha­ften Wiesen nur noch sechs oder sieben Arten aus“, erklärt Böcker. Wer mehr Artenvielf­alt will, könnte also Bauern unterstütz­en, die weniger intensiv wirtschaft­en. Erhalten diese Landwirte einen Ausgleich für die geringeren Ernten, käme Artenschut­z auch nicht allzu teuer: „Um die Artenvielf­alt zu erhalten, bräuchte man ja nur einige Prozent der Flächen weniger intensiv bewirtscha­ften“, meint Böcker.

 ?? FOTO: ROLAND KNAUER ?? Auch Allerwelts­arten wie der Klatschmoh­n wurden seit den 1960er-Jahren deutschlan­dweit seltener, erst seit den 1990er-Jahren können sie sich durch Naturschut­zmaßnahmen auf wenigen Flächen wie diesem Ackerrands­treifen in der Uckermark besser halten.
FOTO: ROLAND KNAUER Auch Allerwelts­arten wie der Klatschmoh­n wurden seit den 1960er-Jahren deutschlan­dweit seltener, erst seit den 1990er-Jahren können sie sich durch Naturschut­zmaßnahmen auf wenigen Flächen wie diesem Ackerrands­treifen in der Uckermark besser halten.

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