Neuer Sinn verzweifelt gesucht
Über die Versuche, die häusliche Zeit im Lockdown munter zu gestalten
Das war ja zu erwarten. Der Lockdown wird verlängert und verschärft. Unsere Lebensart bleibt geschlossen wie Theater, Museen, Kinos und Kneipen. Nicht mal ein kleiner Boutiquenbesuch ist mehr erlaubt – mit Schweißausbrüchen hinter der Maske beim Anprobieren zu enger Jeans. Wenn wir nicht gerade in der Warteschlange stehen, um Klopapier und unser täglich Brot zu erobern, sollen wir gefälligst auf dem Sofa hocken und gar nichts tun. „Besondere Helden“des CoronaJahres 2020 „waren faul wie die Waschbären“, behaupten Rentner aus der Zukunft in den launigen Motivationsspots der Bundesregierung. Leider ist Faulsein und Chips essen auf Dauer recht ungesund für Körper und Geist. Auch der im Haus gehaltene Mensch braucht ein artgerechtes Programm.
Nein, gemeint ist nicht das Fernsehprogramm oder das unendliche Entertainment der Streamingdienste. Obgleich: Es trägt schon zu wohliger Betäubung bei, wenn man die komplette sechste Netflix-Staffel der malerisch metzelnden „Vikings“in knapp acht Stunden über sich ergehen lassen kann. Das hat zweifellos mehr Unterhaltungswert als das Testbild, vor dem man einst nach Sendeschluss einschlafen musste. Aber es macht letztendlich genauso müde, wobei noch die Erkenntnis hinzukommt, dass sich das schlaffe Leben als Couch-Potato allzu krass vom Helden-Alltag eines Wikingers unterscheidet. Es kommt zu einer kollektiven Frustration, die der Experte Leonhard Schilbach, leitender Psychiater in Düsseldorf und Psychiatrieprofessor in München, „mit Sorge“betrachtet, da diese Gefühle, wie er in einem Interview des Zeit-Magazins verrät, „oft auch mit Gereiztheit und Antriebslosigkeit einhergehen“.
Wie wahr, Herr Professor! Ärzte behalten ja jederzeit ihren relevanten Alltag. Wer einen Bauernhof mit Viehhaltung hat, weiß sicher auch genau, was wann zu tun ist. Aber wie schaffen Familien einen befriedigenden Ausgleich für den virtuellen Nervkram von Homeoffice und Homeschooling? Und was sollen Kurzarbeiter und beschäftigungslose Selbstständige in ihren überheizten Wohnungen machen, um die innere Struktur zu retten? Ein Tagesplan ist Schilbachs Lösung – auch für banale Dinge wie Frühstücken, Joggen, mit der besten Freundin telefonieren: „Ich rate dazu, den Tagesplan wirklich aufzuschreiben, mit Uhrzeiten.“
Nun gut, dazu gehört ja sicher, dass man sich im Laufe des Vormittags (sagen wir 9.30 Uhr) ordentlich anzieht und nicht nur zur wöchentlichen Video-Konferenz mal eben ein Jackett über den Pyjama zieht. Man sollte sich kämmen, schminken, im Spiegel korrekt aussehen. Aber halt! Erst nach dem Sport mit Steffi. Die irre gut gelaunte, blondbezopfte Vorturnerin im neongelben Shirt ist Vorturnerin auf einer alten BrigitteDVD („Alles für die Traumfigur“), die ich glücklicherweise nicht mit anderen veralteten Datenträgern entsorgt habe und die mir nun das Fitnessstudio ersetzt. Mit einem Zischen erscheint das Menü, Elektro-Beats machen mir Beine, „wir legen los mit unserem Warm-UpProgramm“, jauchzt die Trainerin.
Steffi, das spürt man, stammt aus der Zeit der großen Unbefangenheit vor Klimawandel und Corona-Blues. Und sie ändert sich nie. „Schön tief in den Ausfallschritt“, kommandiert sie munter, „nimm die Arme kraftvoll mit!“Ja, von Schwäche kennt sie nichts, die Neongelbe, „wir drehen uns über rechts auf“, und wir ziehen „die Schultern ganz aktiv nach hinten und unten“, sogar das Hinlegen hat bei ihr Dynamik: „Leg dich kraftvoll ab“, heißt es da. Und „Super!“lobt sie immer wieder, unbesehen. Ich fühle mich gleich besser. Schon geht es munter fort, zum nächsten Punkt des Tagesplans, nach dem Abarbeiten der Mails. Und das ist das Kochen.
Nie in meinem Leben habe ich so anhaltend in der Küche gestanden. Vor Corona hatte ich weder Zeit noch Lust zum Kochen, wir gingen lieber gleich zum Italiener. Das fand ich übrigens auch feministisch einwandfrei. Nicht ohne Grund schenkte mir eine freche Freundin mal einen Magneten mit dem Spruch „I kiss better than I cook“(ich küsse besser als ich koche). Als Mahnung haftet das Ding bis heute an meinem Herd, den ich nun, in reifen Jahren, täglich zu benutzen gezwungen bin. Und siehe da: Meine Steaks mit Champignons-Sauce und diverse Spaghetti-Variationen sind auf jeden Fall besser als das lauwarme, halb zerquetschte Zeug, das verzweifelte Restaurants nach draußen verkaufen. Doch auch der Küchendienst ist flott erledigt – zumal die hungrige Familie derzeit nicht zueinander kommen darf und nur der bescheidene Gatte zu füttern ist. Aufgrund fehlender Inspiration von außen lässt das Tischgespräch zu wünschen übrig. Und wie mein kleiner Enkel im LangeweileModus frage ich mich gleich nach dem Abräumen schon wieder: „Was mach’ ich?“Mickrig sind die Forderungen des Tages. Das Vorgärtchen leuchtet still im Winterschlaf unter weihnachtlichen Lichterketten und bedarf keiner weiteren Betreuung.
Wichtig ist natürlich auch die geistige Herausforderung. Lange ungelesene Bücher wurden bereits bewältigt, sogar Johannes Frieds 736-Seiten-Biografie von Karl dem Großen. Die mögliche Lektüre ist ja unendlich. Und so mancher fühlte sich in diesem Jahr bemüßigt, auch noch die eigenen Memoiren ungefragt in die Welt zu setzen. Über das Self-PublishingKonzept von Kindle und Amazon geht das inzwischen von zu Hause aus, grenzenlos und kostenlos. Aber keineswegs unkompliziert. Das sicherste Geschäft machen vermutlich Berater, die ihre Self-Publishing-Dienste anbieten.
Wohl dem, der jetzt ein erfüllendes Hobby hat! „Hobbys können Zeit strukturieren, das Hirn trainieren und gute Laune machen“, weiß meine Frauenzeitschrift. Man müsste Klavier spielen können, leider nie gelernt. Manche finden Befriedigung in der stummen Betreuung ihrer Privatsammlungen von Standuhren, Briefmarken oder Schützenscheiben. Ich habe meine halb vertrockneten Schneekugeln sowie meine angeschlagenen Pfeffer-und-SalzScherzgefäße aus aller Welt schon vor längerer Zeit dem Bedürfnis nach neuer Klarheit geopfert. Jetzt sitze ich hier und kann nur schräge Sprachschöpfungen aus dem Corona-Jahr sammeln: „7-Tage-Inzidenz“, „Maskenpflicht“oder, mein liebstes Stück, „Beherbergungsverbot“.
Auch Weihnachten gilt das Verbot. Es soll ohnehin nicht gereist werden, wir halten uns daran. Facetime mit der fernen Familie ist allerdings kein Ersatz für wahre Begegnungen, zumal die Enkelkinder ähnlich wie ich vor dem platten Bild fremdeln und meistens mit flüchtigem Gruß vorüberhuschen: „Hallo, Oma, wie geht’s?“Tja, viel ergiebiger wirkt das digitale Programm meines örtlichen Theaters auch nicht. Ein paar junge Ensemblemitglieder machen improvisierten Schabernack im leeren Saal, Dramaturgen erklären im Podcast, was man aufführen würde, wenn man was aufführen dürfte. Alle sind hilflos, sogar Paartherapeuten wie Nadja und Clemens von Saldern, die sich einen Welpen zugelegt und eine Sauna eingerichtet haben. Der „Süddeutschen Zeitung“verrieten die Berliner Kommunikationstrainer, mit welch bescheidenem Vergnügen sie persönlich den Einschränkungen trotzen: „Manchmal holen wir uns zwei Pizzen ..., essen sie im Auto hinten auf dem Rücksitz, mit Kerze und Barmusik, und kommen uns wieder vor wie Studenten.“
Beneidenswert, ich fände es wahrscheinlich nur kalt und unbequem und würde nörgeln. Das ist höchst kontraproduktiv. „Nie gemeinsam schlecht drauf sein“, empfehlen die von Salderns dringend. Und, alte Kalenderweisheit: „Auf das Positive schauen.“Na gut. Dann sollte man auch auf keinen Fall versuchen, sich gegenseitig die Haare zu schneiden, jetzt, wo auch noch die Friseure schließen müssen. Lieber wachsen lassen und in trauter Zweisamkeit ein Liedchen singen: „Oh, du fröhliche ...“