Ulm freut sich auf Krisenclub Schalke
SSV Ulm könnte mit einem Sieg das Schalker Horrorjahr krönen – und eine Jahrhundertkarriere unschön beenden
ULM/GELSENKIRCHEN (lsw) - Regionalligist SSV Ulm 1846 will die Dauerkrise des FC Schalke 04 für eine Überraschung im DFB-Pokal nutzen. „Wenn die Schalker ihre Leistung abrufen, werden sie ihrer Favoritenrolle gerecht. Aber im Fußball gibt es immer wieder Situationen, wo verrückte Dinge passieren“, sagte Trainer Holger Bachthaler vor dem Zweitrundenspiel heute (18.30 Uhr/ Sky) in Gelsenkirchen. In der Regionalliga belegt Ulm Platz sechs, Schalke ist in der Bundesliga inzwischen seit 29 Spielen ohne Sieg.
- Es gibt nicht umsonst Anstandsregeln auf dieser Welt. Sie regeln das friedliche Zusammenleben und sind zusätzlich zu Manieren Grundlage einer guten Erziehung. Der SSV Ulm 1846 Fußball muss jetzt jedoch eine der grundlegendsten ignorieren. Und zwar: einen bereits am Boden liegenden nicht auch noch zu treten. Denn dass der FC Schalke 04 sich vor dem Zweitrundenspiel im DFB-Pokal (18.30 Uhr/Sky) genau dort befindet, ist unbestritten. Das gibt selbst Schalkes zurückgeholter Not- und möglicher Rettungstrainer Huub Stevens zu, der daher sogar seine obligatorischen Schleifer- und Peitschenfähigkeiten ablegte. „Die Jungs sind am Boden, da kannst du nicht noch drauftreten. Da musst du es auch mal mit Zuckerbrot versuchen“, sagte der Jahrhunderttrainer vor seinem zweiten und sehr wahrscheinlich letzten Auftritt als Interimscoach. Gegen den Regionalligisten SSV Ulm soll zum Ende des Horrorjahres 2020 wenigstens noch ein kleines Erfolgserlebnis geschaffen werden. Für den Verein, die Fans, ganz Schalke. „Jeder Moment kann wichtig sein, um vom Boden wegzukommen“, weiß der 67-Jährige.
Doch gibt es da eben immer auch einen Gegner. Und sind die Ulmer hochmotiviert, den mit 29 Bundesligaspielen ohne Sieg in Folge geknechteten Ruhrgebietskickern noch ordentlich einen mitzugeben. „Die Spieler strotzen natürlich nicht vor Selbstvertrauen. Das ist für uns dann vielleicht auch eine Möglichkeit, gut ins Spiel zu kommen. Mit etwas Spielglück, einem guten Torhüter und dem Momentum auf unserer Seite kann aber die Sensation gelingen“, sagte Ulms Trainer Holger Bachthaler. Verstecken will sich der Club aus der Regionalliga Südwest ohnehin nicht – auch nicht gegen einen Bundesligisten. „Schalke wird viel Ballbesitz haben, aber wir werden ganz sicher nicht versuchen, mit zehn Mann das Tor sauber zu halten“, kündigt Bachthaler an, der die Lage auf Schalke jedoch auch nicht überbewerten möchte: „Ich glaube nicht, dass die sportliche Situation großen Einfluss auf das Spiel haben wird und die Aufgabe deshalb für uns leichter wird. Zudem kann man die Situation auch von zwei Seiten sehen. Wenn man aus einer erfolgreichen Situation kommt, unterschätzt man den Gegner vielleicht manchmal – das wird diesmal ganz sicher nicht der Fall sein. Da weiß jeder, was auf dem Spiel steht und sie werden sicher mit allen Mitteln versuchen, zum Jahresende für ein bisschen Ruhe zu sorgen“, relativiert der Trainer der Spatzen. Ohnehin sei ein Gerede von einer Rollenverteilung generell fehl am Platze: „Das ist ja immer noch eine gute bis sehr gute Bundesligamannschaft, von daher sind wir natürlich nicht Favorit“, beschwichtigt der Trainer.
Doch ist es eben die Bundesliga, das sogenannte tägliche Brot des
Clubs, das den Schalkern so große Sorgen bereitet. Zwar gibt es beim Pokalspiel keine Punkte im Kampf gegen den vierten Abstieg in der Vereinsgeschichte zu erringen, die Sieglos-Serie kann ebenso wenig beendet werden – helfen kann die Partie in der größten Krise seit über 30 Jahren dennoch, vor allem mental. „Wenn du so viele Spiele nicht gewinnst, ist es ganz normal, dass es eine Kopfsache wird“, erklärte Stevens, der trotz der aussichtslosen Situation noch Chancen auf den Klassenerhalt sieht: „Wir haben noch so viele Spiele zu gehen, die Möglichkeit ist noch immer da, daran müssen wir uns festhalten.“
Die Planungen für einen Abstieg laufen allerdings längst. Wie schon 2019, als Stevens als Aushilfstrainer seinen Herzensverein rettete, müssen die Königsblauen in den nächsten Monaten die Unterlagen für die zweite Liga einreichen. Vor zwei Jahren bekamen sie trotz Verbindlichkeiten von 219 Millionen Euro die Lizenz ohne Auflagen. Mittlerweile ist – vor allem wegen der Corona-Pandemie – der Schuldenstand
auf rund 240 Millionen Euro gestiegen.
Zusammenstreichen muss Schalke vor allem seinen Personaletat, der sich noch immer auf etwa 100 Millionen Euro im Jahr beläuft. Zudem sind Spielerverkäufe unausweichlich. Für den Amerikaner Weston McKennie, bislang an Juventus Turin ausgeliehen, ist eine feste Ablösesumme von 18,5 Millionen Euro vereinbart, wenn der Rekordmeister wie zu erwarten die Champions League erreicht.
Nennenswerte Beträge dürften auch Ozan Kabak und Amine Harit einbringen, die Verträge auch für die zweite Liga haben. Das gilt wohl nicht für Nationalspieler Suat Serdar, Abwehrchef Salif Sané und Stürmer Mark Uth. Stevens, der während seines Trainer-Intermezzos sein Amt als Aufsichtsrat ruhen lässt, will Sportvorstand Jochen Schneider seine Erkenntnisse über den Schalker Kader auch mit Blick auf das Transferfenster im Januar mitteilen. Welche das sind, wollte er nicht verraten.
Nach dem Pokalspiel schickt der 67-Jährige die Spieler zudem in einen Kurzurlaub über die Feiertage, dann ist sein vierter Trainerjob auf Schalke vorbei: Die Lizenz, die er eigens noch einmal beantragen musste, läuft zum Jahresende aus. Sein Nachfolger, möglichst ein Routinier wie Friedhelm Funkel, soll noch vor Weihnachten vorgestellt werden – ehe Schneider, vor allem nach seinen Fehlgriffen mit David Wagner und Manuel Baum massiv in der Kritik, im Sommer bereits seinen Trainer Nummer fünf aussuchen soll – für welche Liga auch immer.
Dass die große Trainerkarriere des Huub Stevens mit einem weiteren Nackenschlag für den UEFA-Pokalsieger von 1997 und seinen Trainer ausgerechnet gegen Ulm enden könnte, spielt für die Akteure der Spatzen keine Rolle. „Es gibt sicherlich Gründe, warum Huub Stevens die Aufgabe angenommen hat und da habe ich auch kein Mitleid“, so Bachthaler. „Wir wollen sportlich das bestmögliche – alles andere interessiert uns nicht. Also wäre es mir natürlich lieb, wenn wir Stevens mit einer Niederlage in Rente schicken könnten – das wäre ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für uns.“
„Es gibt sicherlich Gründe, warum Huub Stevens die Aufgabe angenommen hat und da habe ich auch kein Mitleid.“
Holger Bachthaler