Rechtsterror aus dem Kinderzimmer
Nebenkläger sehen im Prozess um den Halle-Attentäter Stephan B. Ermittlungspannen
(dpa) - Wie ein beleidigter Junge hat sich der Halle-Attentäter von der Öffentlichkeit verabschiedet: Wütend warf der 28-Jährige trotzig eine zusammengerollte Mappe in Richtung der Nebenklage, als die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens den Prozess gegen ihn gerade geschlossen hatte. Wieso genau er das tat, war im Gerichtssaal nicht ersichtlich, gefährlich war die Situation nicht. Wenige Sekunden später knieten schon vier vermummte Wachleute auf dem Verurteilten und trugen ihn kurz darauf aus dem Saal.
Knapp drei Stunden hatte Mertens zuvor begründet, warum sie und ihre vier Kollegen vom Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht Naumburg die härteste Strafe für den zweifachen Mord und versuchten Mord in 62 Fällen verhängt haben, die das deutsche Recht vorsieht: Lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld.
Der damals 27 Jahre alte Deutsche Stephan B. hatte am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, versucht, die Synagoge von Halle zu stürmen und möglichst viele Juden zu töten. Als er trotz seiner schweren Bewaffnung nicht in die Synagoge gelangte, erschoss er die Passantin Jana L. aus Frust über sein eigenes Versagen, wie Mertens urteilte.
Kurz darauf ermordete er in einem nahe gelegenen Döner-Imbiss den 20 Jahre alten Kevin S. und schoss auf seiner Flucht noch auf weitere Menschen. „Herr B. mir fehlen die Worte, dies sachlich zu bewerten, wie es meine Aufgabe ist“, sagte Mertens, die nach 25 Prozesstagen sichtlich bewegt ihr Urteil begründete.
Jahrelang habe der Terrorist „in seinem Kinderzimmer gehockt“und seine Tat vorbereitet. Am Ende funktionierte so gut wie nichts davon: Nicht einen Einzigen der Menschen, die der Attentäter töten wollte, tötete er am Ende. Seine Waffen klemmten, seine Sprengsätze verpufften, so gut wie niemand verfolgte den Livestream der Tat. Einen Versager hatten viele Prozessbeteiligte den Attentäter genannt – auch er selbst.
Aber: Er konnte sich in seinem Kinderzimmer jahrelang auf seinen Anschlag vorbereiten, ohne dass der Staat etwas davon mitbekam. Er konnte sich Bauanleitungen und Waffenbauteile beschaffen, ohne dass ein Sicherheitsmechanismus der Behörden gegriffen hätte. Sein Kinderzimmer, ein Computer, die Werkstatt seines Vaters und sehr viel Zeit haben dem Attentäter genügt, um vom Staat unbemerkt einen der schlimmsten antisemitischen Anschläge der Nachkriegszeit zu planen und zu verüben.
Der Attentäter radikalisierte sich zunächst mit Computerspielen, in denen man als Nazi im Zweiten Weltkrieg kämpft. Die dafür zuständige Ermittlerin des Bundeskriminalamtes (BKA) räumte ein, diese Spiele nie gespielt zu haben. Neben den Onlinespielen waren außerdem sogenannte Imageboards, einfache und anonyme Foren im Internet, maßgeblich für die Radikalisierung des Mannes, wie der Prozess zeigte. Auf vielen dieser Boards tauschen sich Rechtsextreme aus und huldigen ihren Vorbildern. Auch der Terrorist von Christchurch hatte seine Tat im Frühjahr 2019 in derartigen Foren vorbereitet und verbreitet. Weder bevor, noch nachdem der 28Jährige die Tat dort angekündigt hatte, wurden diese Foren von deutschen Ermittlungsbehörden beobachtet.
Die Nebenklage hatte empört reagiert auf die offenbarten Wissenslücken der BKA-Ermittler. Diese hatten Fragen nach weiteren Ermittlungsansätzen verneint – mit dem Zusatz, das sei nicht Teil der Aufgabe gewesen.
Das BKA gleiche bei den Ermittlungen einem „humpelnden Patienten, der der Zeit hinterherläuft“hatte Nebenklage-Anwalt David Hermann den Ermittlern vorgeworfen. „Wir kriegen hier ständig Versatzstücke vom BKA“. Eine Nebenklägerin bezeichnete die Arbeit der Sicherheitsbehörden als „erbärmlich“. Eine weitere Nebenklägerin sagte, dass jeder Jugendliche, den man zwei Wochen vor einen Rechner setze, mehr Fachwissen über die Internet-Machenschaften des Angeklagten angesammelt hätte als die Polizei.
„Es ist schon sehr bedenklich, wie wenig Fähigkeiten und wie wenig Interesse die ermittlungsführenden Behörden gezeigt haben“, resümierte
Valentin Hacken von „Halle gegen Rechts“. „Da war für mich nicht zu erkennen, dass sie ernsthaft verstanden haben, wie die Radikalisierungsbiografie des Angeklagten aussieht.“
Auch Mertens ließ erkennen, dass sie auf diesem Gebiet Handlungsbedarf sieht. Sie betonte, wie dringlich die Einrichtung einer Online-Polizei ist, an der der Staat bereits arbeitet. Nebenklage-Anwälte hatten nach den unbefriedigenden Aussagen der Ermittler Sachverständige beantragt. Mertens ließ fast alle zu und ermöglichte so Experten wie der Autorin Karolin Schwarz und dem Soziologen Matthias Quent, dem Gericht die Radikalisierung von Rechtsextremisten im 21. Jahrhundert zu erläutern.
Dafür erhielt die Richterin Lob. „Nicht selten erleben wir in der Justiz eine Sehschwäche auf dem rechten Auge“, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, am Montag. „Im Prozess gegen den HalleAttentäter wurde hingegen genau hingesehen. Diese Haltung, nicht der Täter, sollte Nachahmer finden.“