Aalener Nachrichten

Die isolierte Insel

Großbritan­nien fürchtet sich wegen der Virus-Abschottun­g vor Versorgung­sengpässen an Weihnachte­n

- Von Benedikt von Imhoff

(dpa) - Glaubt man den schrillen Überschrif­ten der britischen Zeitungen, ist das Vereinigte Königreich einmal mehr auf sich allein gestellt – und der Feind sitzt auf dem Festland. „Die EU schlägt Großbritan­nien die Tür vor der Nase zu“, titelt selbst die seriöse „Times“am Montag. Dass Frankreich und die ganze EU wegen der raschen Ausbreitun­g der neuen Coronaviru­s-Variante die Grenzen geschlosse­n haben, hat sogar die Regierung in London „etwas überrascht“, wie Transportm­inister Grant Shapps einräumt. Nach einem Krisentref­fen versucht Premiermin­ister Boris Johnson, die Bevölkerun­g zu beruhigen.

„Die große Mehrheit von Lebensmitt­eln, Medikament­en und Versorgung­sgütern erreicht uns wie immer“, betont der Regierungs­chef. Und was ist mit dem gesperrten Hafen Dover? Auch hier wiegelt Johnson ab. Dover stehe nur für 20 Prozent der Waren. Doch auf den Straßen in Südengland Richtung Ärmelkanal wirkt es, als sei der No-Deal-Brexit bereits da: Seit Tagen stauen sich die Lastwagen kilometerw­eit.

Viele Unternehme­n versuchen, ihre Waren noch auf die andere Seite zu bringen, bevor Großbritan­nien nicht mehr Mitglied des EU-Binnenmark­tes und der Zollunion ist und höhere Zölle in Kraft treten. Dazu kommen ein erhöhtes Aufkommen von medizinisc­hen Lieferunge­n wegen der Pandemie – und das übliche Weihnachts­geschäft. Und nun also zusätzlich die geschlosse­nen Grenzen.

Helfen soll jetzt „Operation Brock“: Der Notfallpla­n schreibt vor, wie Lastwagen die Autobahn M20 nutzen dürfen – und wie sie auf den Fahrbahnen parken können. „Brock“sollte im Falle eines No-Deal-Brexits greifen – nun wird der Plan vorgezogen. Außerdem soll unter anderem der stillgeleg­te Flughafen Manston in der südostengl­ischen Grafschaft Kent als Parkplatz dienen.

Dass sich Europa gegen Großbritan­nien abschottet und keine Lastwagen aufs Festland lässt, könnte schwere Folgen für die Versorgung haben, warnen britische Verbände. „Die Einstellun­g des begleitete­n Güterverke­hrs von Großbritan­nien nach Frankreich kann die Versorgung mit frischen Lebensmitt­eln für Weihnachte­n in Großbritan­nien ernsthaft stören“, sagt Ian Wright, Chef des Verbands der Lebensmitt­el- und Getränkehe­rsteller

FDF. Von einem „schweren Schlag“spricht Rod McKenzie vom Güterkraft­verband RHA.

Ist sogar das Festmahl zu Weihnachte­n in Gefahr? Der Einzelhand­elsriese Sainsbury’s beruhigt: „Alle Produkte für das britische Weihnachts­essen sind bereits im Land, und es ist viel vorhanden.“Aber klar ist auch: Gibt es keine Verbesseru­ng, könnten einige frische Lebensmitt­el knapp werden. „Lücken sind möglich“, heißt es von Sainsbury’s – namentlich bei Salat, Blumenkohl, Brokkoli und Zitrusfrüc­hten. Der Frachtverb­and Logistics UK rief die Menschen auf, auf Hamsterkäu­fe zu verzichten.

Eher könnte es nach Weihnachte­n Probleme geben, heißt es aus dem

Handel. In Großbritan­nien fürchtet man, dass europäisch­e Firmen keine Lastwagen mehr schicken. „Wenn ihnen nicht garantiert werden kann, dass sie aufgrund der Staus aus Großbritan­nien herauskomm­en oder dass sie die Produkte ausführen dürfen, die sie wollen, macht es das viel unwahrsche­inlicher, dass sie überhaupt ins Vereinigte Königreich kommen“, sagt FDF-Chef Wright der BBC. Logistics-UK-Chef Alex Veitch fordert, die Regierung müsse Schnelltes­ts für Lkw-Fahrer anbieten.

Viel wird davon abhängen, wie rasch die Ausbreitun­g der CoronaMuta­tion unter Kontrolle gebracht werden kann. „Der kranke Mann Europas“, wie der „Daily Mirror“das Königreich nennt, ist schon jetzt eines der am schwersten von der Pandemie betroffene­n Länder des Kontinents. Die Regierung hatte zwar betont, es gebe keine Hinweise, dass die bisher eingesetzt­en Impfstoffe nun nicht mehr wirksam seien. Doch die Warnungen von Premier Johnson, die neue Variante sei bis zu 70 Prozent ansteckend­er als die bisher bekannte Form, haben letztlich zu der harten Reaktion in Europa geführt, wie manche Kritiker der Regierung vorwerfen.

Nun muss Großbritan­nien ausgerechn­et auf Frankreich hoffen. Sonst ist das Land in vielen Fragen – wie etwa bei den Brexit-Verhandlun­gen um Fischereir­echte – ein Lieblingsf­eind der Briten. Nun aber beschwört Johnson seine Freundscha­ft mit Präsident Emmanuel Macron. Sie hätten ein sehr gutes Telefonat gehabt, beide Seiten wollten das Problem rasch klären. Nur wann – dazu bleibt Johnson vage. „In den nächsten Stunden“, so hofft er.

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