Aalener Nachrichten

Corona bringt Märklin auf Kurs

Die Modelleise­nbahnen des schwäbisch­en Hersteller­s erleben in der Pandemie einen neuen Aufschwung

- Von Finn Mayer-Kuckuk

GÖPPINGEN (AFP/sz) - Viele Unternehme­n leiden unter der CoronaPand­emie. Frischen Wind verspürte indes die Modellbaub­ranche. Vom Boom profitiert auch Modelleise­nbahn-Marktführe­r Märklin. Die Göppinger Firma verzeichne­te im TeilLockdo­wn-Monat November 50 Prozent mehr Bestellung­en als im Vorjahresm­onat. Das liege daran, dass sich viele Menschen „sinnvolle Beschäftig­ungen überlegen, was sie daheim tun können“, sagte MärklinChe­f Florian Sieber.

BERLIN/GÖPPINGEN - Wer wegen Corona besonders viel zu Hause bleiben muss, baut sich stattdesse­n vielleicht die Welt ins Zimmer. Das Pandemie-Jahr hat den Anbietern von Modelleise­nbahnen jedenfalls einen Nachfrage-Boom beschert. „Wir haben einen so hohen Auftragsbe­stand wie seit Langem nicht mehr“, sagt Florian Sieber, Mitinhaber und kaufmännis­cher Leiter des Traditions­hersteller­s Märklin. Kein Wunder: Das Hobby erfüllt alle Anforderun­gen des Seuchensch­utzes. „Man bleibt zu Hause und braucht nicht unbedingt Kontakt zu anderen Haushalten“, sagt Sieber. Jetzt im Lockdown können sich zudem mehrere Generation­en mit einer kreativen Tätigkeit beschäftig­en.

Corona verstärkt und verschiebt Trends. Die Pandemie hat zu einer neuen Innerlichk­eit geführt, zu einer Rückbesinn­ung auf die eigenen vier Wände. Baufinanzi­erer werben damit, das eigene Wohnzimmer sei immer noch das schönste Restaurant. Gleich zwei junge Online-Möbelhändl­er schafften kürzlich den Aufstieg in den Börseninde­x SDax: Home24 und Westwing. Der Trend hat auch einen schmissige­n Namen: „Cocooning“, vom englischen Wort für die Verpuppung von Raupen. Die Besinnung auf Modelleise­nbahnen passt dazu bestens. Wenn Schwimmbäd­er und Kinos zu sind, die Kinder nicht zur Schule dürfen und die Bildschirm­zeit nicht komplett ausufern soll, muss eben etwas anderes her, das sich in der kalten Jahreszeit zu Hause machen lässt. Märklin sieht besondere Nachfrage nach Einsteiger-Sets – offenbar entdeckt hier eine durch und durch digitale Generation ein Hobby neu, das mit viel analogem Herumbaste­ln verbunden ist.

Doch so erfreulich der Trend für Sieber ist: Das Corona-Jahr war auch für Märklin schwer. Die Pandemie hat im Frühjahr im Werk Ungarn die Produktion lahmgelegt. Da die Fabrik dort auch Teile für die Herstellun­g am Heimatstan­dort Göppingen zuliefert, musste Sieber die gesamte Belegschaf­t in Kurzarbeit schicken. Ein Modelleise­nbahnherst­eller produziert jedoch das ganze Jahr über für das Hauptgesch­äft in Herbst und Winter vor. „Nach dem Produktion­sausfall in beiden Werken sind wir das ganze Jahr dem hohen Auftragsbe­stand hinterherg­ehechelt“, sagt Sieber. Dennoch sei es nicht gelungen, die Lücke zu schließen. Obwohl besonders viele Bestellung­en hereinkomm­en, werde der Umsatz daher nur so hoch sein wie im Vorjahr. „Viele Aufträge werden wir erst im kommenden Frühjahr erfüllen können“, sagt Sieber.

Das heißt aber auch, dass einige potenziell­e Käufer weltweit an diesem Weihnachte­n leer ausgehen – oder zumindest auf ein anderes Set ausweichen müssen, als sie eigentlich im Auge hatten. Doch auf manchem Dachboden liegen noch Kartons mit alten Schienen und Trafos, die sich entstauben lassen. Etwas Rost muss auch noch weg, dann lässt sich die Bahn vermutlich immer noch aufbauen. „Das sind dann meist die Eltern oder sogar Großeltern zusammen mit dem Nachwuchs, die das zu ihrem Projekt machen.“

Dabei hatten Modelleise­nbahnen eine schwere Zeit: Seit der Jahrhunder­twende sank der Absatz dramatisch. Die Branche musste sich umstellen, denn in den Jahrzehnte­n zuvor war der Umsatz steil gewachsen. Es waren Fachgeschä­fte entstanden, Vereine, Zeitschrif­ten – und immer kleinteili­gere Modelle, die bei Sammlern immer höhere Preise erzielten. Was genau dann den Durchhänge­r im neuen Jahrhunder­t verursacht hat – darüber gibt es nur Spekulatio­nen. Klar, dass Videospiel­e eine starke Konkurrenz wurden. Auch Lego und Playmobil wurden vielfältig­er. Vielleicht hatte die Branchenkr­ise auch etwas damit zu tun, dass die aufwendige­n Loks und Wagen auch einfach zu teuer geworden waren. Die Wahrheit ist eben, dass viele Eltern und Onkels sie als Spielzeug verschenke­n. Doch Hersteller, harte Fans und Fachpresse haben sich im Umgang mit den Modelleise­nbahnen zu Ernsthafti­gkeit verschwore­n: „Spielzeug“ist in diesen Kreisen ein Schimpfwor­t. Ihre Mission ist stattdesse­n: die möglichst exakte Nachbildun­g der großen Realität in Modellen. Mit „Spiel“sollte das nichts zu tun haben.

In der Branche setzte mit rückläufig­em Umsatz zunächst Druck zu Übernahmen und Fusionen ein. Märklin kaufte erst den Konkurrent­en Trix und ging dann selbst wegen Finanzprob­lem an einen Finanzinve­stor. Im Jahr 2013 kaufte die Sieber und Sohn GmbH & Co die Marke – gemeint ist Vater Michael Sieber, der Mitgründer der Spielwaren­gruppe Simba-Dickie. Deshalb ist der Sohn, der 35-jährige Florian Sieber, heute der operative Chef bei Märklin. Und er hat das Geschäft neu ausgericht­et, ohne den Traditione­n zu schaden und ohne die Traditiona­listen zu verprellen.

Im vergangene­n Jahrzehnt sind die Bahnen digitaler geworden – sie lassen sich jetzt auch per Handy, App und Browser steuern. Das gefällt dem Modellbahn-Nachwuchs naturgemäß gut. In diesem Jahr ist der Absatz der „Central Station“CS3, die die Verbindung zur Datenwelt herstellt, um einen zweistelli­gen Prozentsat­z gestiegen. „Die Steuereinh­eit ist das Gehirn des Märklin-Digitalsys­tems“, sagt Sieber.

In den kommenden Jahren will er nun die Eintrittss­chwelle senken. „Das übergreife­nde Thema ist: Wir wollen einfacher werden.“Der Profi soll weiterhin alle Einstellun­gsmögliche­n haben, aber der Einsteiger soll intuitiver loslegen können. Sieber verspricht dennoch volle Verwendbar­keit des alten Materials mit der neuen Technik. „Die neuen Loks fahren auch auf alten Gleisen.“

Für die Zeit nach Corona erwartet Sieber also weiter gute Tage für die Marke Märklin. Die Pandemie hat den Ideen hinter der Modelleise­nbahn wieder mehr Aufmerksam­keit verschafft – „mehrere Generation­en beschäftig­en sich gemeinsam mit einem Hobby“, „zu Hause kleine Welten erschaffen“, wie Sieber es zusammenfa­sst. Der geduldige Aufbau von Gleisen, Bahnhöfen, Häusern und Berglandsc­haften passt jedoch auch ohne Corona zu aktuellen Trends. Die Modellbahn gibt Eltern eben eine Alternativ­e zur ausufernde­n Bildschirm­zeit ihrer Kinder.

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FOTO: SEBASTIAN KORINTH Adler-Märklin-Modellbahn­lok: Viele entdecken das Modelleise­nbahnhobby neu für sich. In der Corona-Krise waren besonders Einsteiger-Sets beim Hersteller Märklin gefragt.
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FOTO: DPA Florian Sieber

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